Unterland
gedankenlos.«
»Ich dachte, ich täte ihr einen Gefallen«, klagte Mem, während sie aufwischte. »Sie braucht das Geld doch so dringend.«
»Sie wird ihr Geld bekommen. Und hier«, er griff in die Schüssel mit den ungepellten Kartoffeln und füllte meiner Mutter eine Handvoll in die Schürzentasche, »nimm ihr welche mit.«
Die Engländer sind fein raus: Über eine so komplizierte, missverständnisgefährdete Entscheidung wie die Anrede »Du« oder »Sie« brauchen sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Aber obwohl es das Wort »Du« im Englischen gar nicht gibt, hatte ich dennoch das Gefühl, dass es Mem und Captain Sullavan irgendwie gelungen war, es zu verwenden.
Das Fest wurde ein Erfol g – sowohl im Garten als auch in der Küche, denn wir durften von allem, was wir zubereitet hatten, eine Portion zurückbehalten. Captain Sullavan brachte uns sogar einen Teller mit Spanferkelabschnitten und setzte sich ein paar Minuten zu uns, um sich daran zu freuen, wie es uns schmeckte.
Es hätte mir allerdings noch besser geschmeckt, hätte ich nicht die ganze Zeit an die Wranitzky denken müssen. Ich fand, dass sie sich ihre Mahlzeit redlich verdient hatte und dass sie nun nicht dabei war, erschien mir so ungerecht, dass ich gern jemanden dafür verantwortlich gemacht hätt e – aber wen? Mr s Musgrave hatte uns zwar nicht aufgefordert, vor der Arbeit zu essen, um bei Kräften zu bleiben, aber hätte sie auch Nein gesagt, wenn Mem gefragt hätt e …?
»Esst langsam«, ermahnte uns Mem. »Lasst kleine Pausen, denkt an euren Magen. Wir dürfen Reste mit nach Hause nehmen, es besteht kein Grund, darüber herzufallen!«
»Es wird bald besser werden«, beschwor der Captain, während er uns mit umwölkter Stirn beobachtete. »Demnächst in der Bizone wird alles besser für euch.«
Auch der Wranitzky durften wir als Teil unseres Lohns Fleisch, Kartoffeln und Gemüse mitbringen, aber die Tüte musste Mem ihr an die Türklinke hängen, da sie sich weigerte herauszukommen. Noch auf der Treppe hörte Mem allerdings, wie die Tür rasch auf und zu ging, und konnte uns mitteilen, dass es oben nun wenigstens ein Abendessen gab.
Statt der Wranitzky kam Nora zum ersten Mal seit ihrem Einzug in unser Zimmer und fragte: »Was ist denn bloß passiert? Die arme Frau war völlig außer sich.«
»Eine kleine Panne in der Küche«, antwortete Mem gedehnt. »Haben Sie gegessen?«, fügte sie pflichtschuldigst hinzu, da wir unsere gemeinsame Küchenzeit verpasst hatten.
»Wim hat uns ausgeführt!« Nora musste lächeln. »Dass der Junge Geld fürs Restaurant ha t …! Herr Helmand und ich sind ja praktisch mittellos.«
»Sie müssen sehr stolz auf Wim sein«, meinte Mem.
»Das bin ich«, erwiderte seine Mutter ernst.
Als Nora gegangen war, streckte ich mich neben Ooti auf unserer Matratze aus. Mein Rücken schmerzte, meine Arme trugen Bleigewichte und die Finger waren aufgeweicht vom stundenlangen Gemüseschneiden, aber mein Bein beklagte sich ausnahmsweise nicht. »Dieser Captain Sullava n …«, sagte Ooti plötzlich.
»Ja?«, fragte Mem aufgeschreckt.
»Kommt mir wie ein feiner Mensch vor. Seit wann nennst du ihn beim Vornamen?«
»Da ist nichts dabei«, erwiderte Mem. »Die Engländer sind viel weniger förmlich als wir.«
»So?« Ooti war ehrlich überrascht. »Dann müssen sie sich aber sehr geändert haben, seit sie Helgoland gegen Sansibar getauscht haben.«
Ich schloss die Augen, schien zu sinken, federleichte, zusammenhanglose Worte durchtanzten meinen Kopf.
Ein feiner Mensc h … Herr Helmand und ic h … Sansibar Sansibar Sansiba r …
Dass Mem mir das Bein auszog, bekam ich schon nicht mehr mit.
Wurde je darüber gesprochen oder hörten Wollanks einfach auf, mit uns zu essen? Bereits bei unserer ersten gemeinsamen Mahlzeit erschien uns Herr Helmands Anwesenheit unerwartet fremd und nicht richtig, obwohl man überhaupt nichts gegen ihn sagen konnte. Er war gesprächig, unkompliziert und füllte seinen Teller nur ein einziges Mal. Mit seiner schlanken Gestalt nahm er kaum Platz weg und lernen konnten wir auch von ihm, denn mit den Prozessen in Nürnberg, die in diesen Tagen ihrem Ende zugingen, kannte er sich aus, als wäre er selbst dabei gewesen. Zuletzt hatte ausgerechnet Hitlers Architekt seine Schuld und Reue ohne Umschweife eingestanden, während die Generäle und hohen Beamten des Reichs allesamt auf nicht schuldig plädiert hatten. Wenn irgendeiner seinen Hals noch aus der Schlinge ziehen könne, meinte
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