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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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trennte.
    »Das sag ich meiner Mem!«, brüllte sie mit krebsrotem Gesicht. Einer ihrer Zöpfe hatte sich gelös t – das musste der sein, von dem ich ein Büschel in der Hand hielt. »Du hast angefangen, d u … du Krüppel!«
    »Heb lieber deine Knöpfe auf, Heulsuse, sonst stehst du in der Unterhose da«, sagte ich kühl und stand auf.
    Oder vielmehr: Ich setzte dazu an. Weit kam ich nicht. »Oh Gott, Alice«, sagte Henry tonlos.
    Ich hatte das Gefühl, der Boden müsste sich auftun. Steine müssten von den Dächern regnen, die Straße aufreißen, metallene Blitze vom Himmel fallen. Bevor ich den Schrei herauslassen konnte, der vom Bauch in meine Kehle raste, kam mir jemand zuvor, setzte ein helles Zetern ein: »Lassen Sie los! Hilfe, Hilfe, Hilfe!«
    Hinterher malte Sigrid mir farbenfroh aus, wie mein Bein über den Bürgersteig direkt auf sie zugesaust wa r – wie ein Hockey, behauptete sie, und Sonja verbesserte: »Puck«, aber Sigrid ließ sich nicht beirren und meinte, die Hauptsache sei doch, sie hätte es gehalten und verteidigt! Zwei Frauen halfen ihr, den Mann abzuwehren, der es ihr aus der Hand hatte winden wolle n – auf dem Schwarzmarkt ließ sich mit Prothesen eine Stange Geld verdienen.
    Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wären Larsens auf ihrem Schulweg nicht wie immer direkt hinter uns gegangen!
    Fasziniert untersuchte Sigrid ihre Trophäe. »Seht mal, das ist innen wie ein Trichter«, sagte sie zu ihren Schwestern. »Da kommt der Stumpf rein, da schnallt man es fest, und am Fuß ist sogar ein bewegliches Gelenk!«
    Sie machte ein Gesicht, als würde sie es am liebsten auf der Stelle anprobieren. »Sigrid, ich glaube, sie würde jetzt gern aufstehen«, bemerkte Sonja.
    Worauf Sigrid mein Körperersatzstück etwas widerstrebend zurückgab. Auf dem Bürgersteig sitzend, zog ich die Hose übers Knie, rückte meinen Stützverband zurecht und schnallte die Prothese blitzschnell wieder um.
    »Das muss doch ganz schön drücken?«, meinte Sigrid.
    »Stimmt«, bestätigte Henry, da ich noch zu mitgenommen war, half mir auf und drückte mir die Krücken unter den Arm. Leni hielt unterdessen ihren Rock zusammen und beeilte sich, die Knöpfe einzusammeln.
    »Du hast mich angegriffen!«, zeterte sie. »Das hat hier jeder gesehen, auch Henry!«
    Seit wir uns kannten, unser ganzes Leben also, hatte ich Leni nicht anders als furchtsam und weinerlich erlebt; jetzt erkannte ich sie kaum wieder.
    Sigrid meinte streng: »Sie hat angefangen, aber du hast Krüppel gesagt, also seid ihr wohl quitt.«
    »Halt du dich da raus, Sigrid Larsen!«, brüllte Leni. »Und wenn ihr Hexen uns noch einmal auflauert, hau ich dir auch eine runter!«
    Sprach’s und stapfte davon, ihren Rock krampfhaft festhaltend. »Sehen wir uns im Garten?«, rief ich ihr auf Halunder nach, aber sie antwortete nicht.
    Zu meiner Überraschung blieben Larsens im Weitergehen neben uns, wenngleich es uns alle verlegen machte und keinem etwas Gescheites einfiel, was man, nachdem ich mich bedankt hatte, hätte sagen können. Sonja erklärte zwar, gegen Graber müsse mal jemand etwas unternehmen. Aber selbst darauf konnte man nicht viel mehr als Ja antworten, weil wir uns sowohl einig waren, dass das schön wäre, als auch dass es niemals passieren würde.
    An den Nissenhütten verabschiedeten wir uns. »Komm ruhig wieder in den Garten«, forderte Sigrid mich auf. »Es gibt viele Arbeiten, für die man keine zwei Beine braucht.«
    »Ich hab ja wieder zwei, vergessen?«, erwiderte ich.
    Ich konnte kaum glauben, wie leicht sie es nahme n – oder hatte Henry Recht gehabt und die Klasse wusste sowieso längst Bescheid?
    »Mach nicht so ein Gesicht«, forderte ich meinen bleichen, schweigsamen Bruder auf. »Es ist doch nichts passiert.«
    Trotzdem waren wir beinahe an unserem Gartentor angekommen, als er damit herausrückte. »Ich weiß es wieder«, sagte er.
    Ich blieb stehen. Mein Herz setzte aus, ich wusste sofort, wovon er sprach.
    »Als ich euch auf dem Boden herumrollen sah, ist es mir wieder eingefallen.« Henry versuchte zu grinsen, aber es misslang; mein Bruder musste diesen Augenblick mindestens ebenso sehr gefürchtet haben, wie er ihn herbeisehnte.
    »Die Turnhalle«, sagte Henry leise. »Wenn ich dich samstags zur Gymnastik gebracht hab e … er war manchmal hinten am Boxsack.«

13

    Meine Mutter hatte uns schon ausführlich daran teilhaben lassen, wie es in »ihrem« Haus auf der anderen Seite des Tommy-Zauns aussah,

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