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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Herr Helmand, dann sei es der kluge Herr Speer, der den Anklägern alles geliefert habe, was sie hören wollten.
    Und dennoch waren wir befangen. Wir hatten uns daran gewöhnt, unter Frauen und Kindern zu leben; eine Familie, die im Begriff war sich zu vervollständigen, passte, ohne dass sie oder wir das gewollt hätten, plötzlich nicht mehr dazu. Vor allem, wenn es so schnell ging wie bei Wollanks und Herrn Helmand: Schon eine Woche nach seinem ersten Besuch im Kiekebuschweg konnte man sehen, dass sie ernste Absichten hatten, zueinandergegehören.
    Worüber Wim allerdings glücklicher zu sein schien als Nora. Stundenlang konnten er und Herr Helmand über einem Schachspiel brüten, das Wim auf dem Schwarzmarkt erworben hatte; beide waren fasziniert von der »hierarchischen Logik auf dem Brett« und der »strategischen Option« jeder einzelnen Schachfigur. Wim konnte sich nur noch mit Mühe davon losreißen, um nachmittags seine n – unsere n – Geschäften nachzugehen.
    »Musst du jetzt eigentlich«, beschwerte ich mich, »jeden zweiten Satz anfangen mit Herr Helmand sag t …?«
    Wim grinste schief, dann antwortete er: »Nein, damit hat es ein Ende. Er hat mir das Du angeboten, gewöhne dich also in Zukunft an Richard sagt! «
    Ein einziges Mal nur ging Herr Helmand mit auf den Schwarzmarkt, aber geheuer war es ihm nicht; er trug seinen Hut tief in die Stirn gedrückt und legte Wert darauf, niemandem vorgestellt zu werden.
    Was in Wims Gegenwart praktisch unmöglich war. Man konnte sich mittlerweile kaum noch mit ihm unterhalten, ohne unterbrochen zu werden, weil er jemanden grüßen musste.
    Vielleicht war das der Grund, warum Herr Helmand danach nicht mehr mitkam: Mit anrüchigen, womöglich gefährlichen Geschäften wollte er nichts zu tun haben. Im Krieg hatte er nicht einmal eine Pistole in der Hand gehabt, sondern aus gesundheitlichen Gründen in einer Behörde in Prag überdauert. Aus reinem Glück war es ihm während der Ausschreitungen gegen die Deutschen gelungen, nicht das Schicksal seiner Kollegen zu teilen, die allesamt auf die Straße getrieben und erschlagen worden waren: Herr Helmand war zufällig im richtigen Moment auf dem Klo gewesen und von dort aus dem Fenster gesprungen!
    In der dritten Woche brachte er einen kleinen Koffer mit und ließ ihn im Kiekebuschweg, da es, wie er beklagte, im Bunker fortwährend zu Diebstählen kam. »Ab jetzt könnt ihr die Tage zählen«, meinte Ooti. »Wo der Koffer ist, da ist bald auch der ganze Mann.«
    Mir sollte es recht sein: Seit Herr Helmand bei uns ein und aus ging, sprach Wim nicht mehr von Südamerika und mit stiller Zufriedenheit sah ich voraus, dass dieser vorsichtige Mann kaum gewinnen zu sein würde für Aufenthalte in fremden, unberechenbaren Kulturen!
    Auch Nora schien froher zu werden. Sie fand Arbeit als Stenotypistin in einer Damenbekleidungsfabrik und kam wie Mem nun erst abends nach Hause. Die Dinge spielten sich ein.
    Zwischen Gustav und mir hatte sich ein kleines Begrüßungsritual entwickelt. »Nichts gehört?«, fragte er. Und »Nichts gehört« antwortete ich, denn ich hatte ihm erzählt, dass ich Herrn Goldsteins Freunden geschrieben hatte.
    Mehr Worte wechselten wir selten. Auf dem Schwarzmarkt hatte man die Augen offen zu halten, jederzeit musste man bereit sein zu verschwinden. Sobald unbekannte Personen in den Abschnitt der Straße einbogen, wo die Händler ihre Geschäfte machten, wurden sie weitergereicht von einem Augenpaar ans nächste; die Anwesenheit einer ungewöhnlichen Zahl Unbekannter ließ die Luft knistern.
    Im Gegensatz zu Wim, der wie die meisten Händler immer in Bewegung war, blieb ich an derselben Stelle in der Nähe des Hauseingangs von Herrn Goldstein stehen, um im Notfall durch die Hintertür der Baracke in eins der Nebengebäude verschwinden zu können.
    In Gedanken hatte ich die Situation so oft durchgespielt, dass sie mir, als es Anfang August so weit war, beinahe vertraut vorkam: Ein schriller Pfiff ertönte, ich wandte mich blitzschnell um und tauchte in den Schatten des Hinterhofs, alle Sinne geschärft und hellwach. Das Zusammenspiel zwischen mir und meinem Körper funktionierte wieder einmal tadellos.
    Die Tür der Baracke war nie verschlossen, da auch andere die Rückzugsmöglichkeit nutzten. Man gelangte sowohl ins linke Nachbarhaus als auch in die Ruine des rechten, von wo man durch die Bombenlöcher der Keller weiterflüchten konnte.
    Aber als Gustav hinter mir rief: »Komm mit!«, dachte ich nicht

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