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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Nachthemd an und schlüpfte an Henrys Fußende unter die Decke. Ich hätte schwören können, dass jeder Einzelne von uns wach lag, aber niemand verriet sich durch einen Laut oder eine Bewegung.
    Ich hörte Mem seufzen. Es klang glücklich! Ich spitzte die Ohren, wartete auf ihr Zähneknirschen, aber zum ersten Mal seit vielen Monaten blieb es aus. Hätten Bolles nicht bald darauf zu schreien begonne n … man hätte glauben können, wir wären an einem anderen Ort.

15

    Anfang Oktober stand Graber vor genau sieben Schülern, denn die Kartoffelernte hatte begonnen und wer immer einen Platz in oder auf den hoffnungslos überfüllten Zügen nach »Hamsterland« ergatterte, machte sich auf den Weg. Zu Dutzenden postierten sich die Städter mit ihren Rucksäcken am Feldrand, bis die Bauern ihre Ernte eingefahren hatten und den Acker zum Stoppeln freigaben. Zwischen den Furchen blieben immer Kartoffeln zurück, zumal manche Bauern mit Absicht welche liegen ließen.
    Graber ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was er von uns daheimgebliebenen Drückebergern hielt; umso mehr ärgerte es ihn, dass wir sogar in den Genuss einer zweiten Portion Suppe kamen, weil auch aus den anderen Klassen weniger Kinder in der Schlange standen.
    »Wieso ist er eigentlich nicht auf dem Feld?«, brummte ich in meine Blechdose, während ich zwischen Leni und Ulf Gebhard mein Mittagessen löffelte.
    Ulf Gebhard sagte leise: »Ich hatte so gehofft, er stirbt in den Ferien.«
    Ich schlürfte einen Löffel Kekssuppe und sah mir Graber, der an einem Tisch in der Nähe der Tür aß und gleichzeitig eine Zeitung studierte, genauer an. Jetzt, wo Ulf mich auf den Gedanken gebracht hatte, fiel auch mir auf, wie schlecht der Mann aussah! Seine Haut war weiß mit einem bläulichen Schimmer, die Wangen eingesunken, die Lippen ohne Farbe. Ich musste nicht lange überlegen, wo ich einen solchen Teint zuletzt gesehen hatte.
    »Mensch, du hast Recht!«, flüsterte ich. »Seht ihn euch doch mal an!«
    Auch die anderen hoben jetzt verstohlen den Kopf und schielten zu Graber hinüber.
    »Ich kannte jemanden, der dieselbe Gesichtsfarbe hatte«, flüsterte ich. »Ein paar Wochen später war er tot, einfach so!«
    »Ist das wahr?«
    »Einfach so!«, wiederholte ich.
    Graber blätterte die Zeitung um, ein großer Klecks Suppe fiel auf das Papier. Ärgerlich verzog er das Gesicht und schippte das Essen mit dem Finger zurück auf seinen Löffel.
    »Ein paar Wochen später, sagst du? Wie lange genau?«
    »Zwei Monate. Höchstens! Es hat was mit dem Herzen zu tun.«
    »Kann man sich darauf verlassen?«, fragte Ulf aufgewühlt.
    »Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Der Mann, den ich kannte, kam aus einem Lager.«
    »Aber sein Gesich t … genau so?«
    »Ja, ganz genau!«
    Graber zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Mund, dann stand er schwerfällig auf, klemmte die Zeitung unter den Arm und verließ den Raum mit Schritten, die sieben hellwache Augenpaare als schleppend wahrnahmen. Äußerst schleppend.
    »Mein Bruder«, flüsterte Ulf und beugte sich vor, »mein Bruder sagt, es gab im Osten sehr wohl Lager für die Juden! Seine Kompanie hat eins gesehen, es hieß Kazett. Er sagt, Graber ist ein Lügner und man sollte ihn melden, aber vielleicht ist es ja gar nicht mehr nötig.«
    Voller Erwartung starrten wir auf die Tür, durch die Graber verschwunden war.
    »Und meine Mem sagt, deine Mem geht jetzt mit einem Tommy«, bemerkte Leni auf dem Weg nach Hause.
    Ich blieb ganz ruhig. »Du kannst deiner Mem sagen, sie geht nur mit ihm ins Kino. Und sag ihr, meine Mem schreibt jede Woche an unseren Foor, er weiß also Bescheid.«
    »Na, das bezweifle ich aber«, erwiderte Leni spitz.
    »Darfst du ruhig. Du bildest dir sowieso eine Menge ein, bloß weil du neuerdings Büstenhalter trägst«, beendete ich das Gespräch und krückte schneller. Es war, wie ich befriedigt feststellte, keineswegs unmöglich, eine andere stehen zu lassen, bloß weil man selbst an Krücken ging.
    Captain Sullavan ging mittlerweile nicht nur mit meiner Mutter ins Kino, er ging praktisch bei uns ein und aus. Zumindest kam es mir so vor. Persönlich erschien er nur ein-, zweimal pro Woche, um Mem abzuholen, aber da Ooti, Henry und mich seine vergangenen, unmittelbar bevorstehenden und noch in der Zukunft liegenden Besuche auch den Rest der Woche beschäftigten, war er in Wahrheit viel öfter bei uns.
    Fast immer schenkte er uns Kaugummi und war überhaupt die Liebenswürdigkeit in

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