Unterland
Kino verschwanden, auch die anderen taten genau dies, es war von großer Banalität.
Als sie drinnen waren, trauten wir uns vorsichtig aus unserer Deckung: diesmal zur Abwechslung kein Hauseingang, sondern eine mit handgeschriebenen Suchanzeigen übersäte Litfaßsäule. Gesucht wurde alles, vom kleinen Handwage n – leihweise für die Holzabfuh r – bis hin zum Stabsgefreiten, vermisst in Stalingrad. Während wir auf Mem und den Captain warteten, hatten wir reichlich Zeit gehabt, die Litfaßsäule zu studieren. Sogar ein Alfred Wollank wurde gesucht, allerdings ein Wollank aus Kolberg.
»Was jetzt?«, fragte ich meinen Bruder. »Warten wir, bis sie wieder rauskommen?«
»Geht nich t … die Ausgangssperre!«
Wir trollten uns nach Hause, Henry fast noch schleppender als ich. Merkwürdiges Gefühl, unsere Mutter zurückzulasse n … als lichteten wir den Anker, obwohl noch gar nicht alle an Bord waren.
»Wenn sie überhaupt mit jemandem ins Kino geht, dann besser mit Captain Sullavan als sonst wem, oder nicht?«, fragte ich nach einer Weile.
Henry antwortete nicht, seine Mundwinkel hingen herab; wahrscheinlich war ihm gerade aufgegangen, dass unsere Bekanntschaft mit den Tommys seine Schuld war.
Nora saß allein auf der obersten Treppenstufe vor Frau Kindlers Haus und rauchte.
»Was ist euch denn über die Leber gelaufen?«, fragte sie, als wir durchs Gartentor traten.
Nach kurzem Zögern setzte ich mich neben sie. Auch Henry blieb draußen und lehnte sich an die Hauswand, woraus ich schloss, dass er nichts dagegen hatte zu reden.
»Mem ist im Kino«, gestand ich.
»Mit ihrem Tommy-Captain?«, folgerte Nora und wir brachten es kaum übers Herz zu nicken.
Nora tat ein, zwei tiefe Züge an ihrer Zigarette, bevor sie antwortete. »Wartet ab. Wenn sie euch morgen den Inhalt des Films erzählen kann, ist das ein gutes Zeichen.«
»Unser Foor kommt sowieso bald zurück«, erwiderte Henry leise, bevor er es nicht mehr aushielt, sich von der Wand abstieß und ins Haus ging.
Ich blieb bei Nora, sie rauchte, ich schwieg, und einige Minuten vergingen, bevor ihr auffiel: »Du hast neue Schuhe!«
Ich streckte das rechte Bein aus. »Kommen sie dir bekannt vor?«
Sie lächelte. »Ich könnte mich irren, aber sie erinnern verdächtig an deine Schultasche!«
»Ja, und weißt du was? Kaum hatte ich sie abgegeben, gab es plötzlich wieder Bücher!«
Wir mussten beide lachen. Es tat so gut, dass es mir fast gelang, meine Sorge um Mem beiseitezuschieben.
»Wo ist Wim?«, fragte ich.
»In der Stadt.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht wie ein Hauch kühler Nachtluft.
»Kommt er denn nicht zum Essen?«
»Es ist etwas Dummes passiert, Alice. Deine Großmutter wollte die Tommy-Tüte holen, aber sie war nicht mehr da.«
»Vielleicht hat Mem sie vergessen.« Vor lauter Captain Sullavan! , fügte ich in Gedanken vorwurfsvoll hinzu.
Doch Nora meinte: »Nein, jemand ist hinter das Versteck gekommen. Wim versucht auf die Schnelle noch etwas zu organisieren, aber um diese Tageszeit dürfte es schwierig werden.«
»Das schafft er«, antwortete ich rasch und versuchte mir mein Erschrecken nicht anmerken zu lassen. Die Essenstüte der Tommys war zum festen Bestandteil unserer Verpflegung geworden, wir verließen uns auf sie; das Wissen, dass uns jemand beim Ausräumen der Tonne beobachten konnte, hatten wir lieber verdrängt.
Eine halbe Stunde später kehrte Wim zurüc k – mit leeren Händen. Auf unseren Tellern lagen an diesem Abend die mit einer Scheibe Steckrüben belegten Brotschnitten, die wir sonst fürs Frühstück aufhoben, und wir aßen sie schweigend und bedrückt, weil der nächste Tag mit leerem Magen beginnen und sich endlos hinziehen würde, bis Henry und ich mittags unsere Schulsuppe bekamen. Eins der Gläser zu öffnen, die wir als Wintervorrat im Keller eingelagert hatten, kam nicht infrage, sie waren zu knapp und kostbar.
Es ist doch nur ein halber Tag, versuchte ich mir einzureden, aber es nützte nichts, selbst die Aussicht auf einen halben Tag Hunger erfüllte mich mit Furcht. Unsere Versorgung war zerbrechlicher, als ich hatte wahrhaben wollen, es konnte jederzeit etwas dazwischenkommen und uns zurückwerfen in eine Zeit, an die ich mich nicht erinnern, geschweige denn mir vorstellen wollte, sie könnte sich je wiederholen.
Gegen Mitternach t – die Tommys und ihre Begleitung gehörten zu den wenigen Personen, für die die Ausgangssperre nicht gal t – kam Mem nach Hause, zog im Dunkeln ihr
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