Unterland
Mem, wären die Leute kleinlaut und schuldbewusst umhergeschlichen und jeder hätte noch genau gewusst, dass wir uns selbst in diese Lage gebracht hatten. Jetzt begann dieser Teil zu verblassen, schließlich standen die Verbrecher vor Gericht, und die Erinnerung an das, was uns bald wieder bevorstand, machte die Leute hysterisch und unberechenbar.
Nicht einmal wir Kinder waren noch sicher. Eines Morgens fehlte Sigrid Larsen in der Schule und Sonja erzählte, sie seien am Vortag auf dem Weg zum Schwarzmarkt überfallen worden.
»Kennst du die Ruinen hinter dem abgeholzten Park? Darunter wohnen Dutzende Kinder! Plötzlich kriechen sie aus ihren Kellern und du bist umzingelt.« Noch in der Erinnerung schüttelte sich Sonja vor Entsetzen. »Sie sind klapperdürr, total verdreckt, einige fast nackt und voller Geschwüre. Gesichter wie Gespenster, aber die verrückte Sigrid musste ja unbedingt unsere Tasche verteidigen. Da haben sie ihr den Arm gebrochen.«
Sigrid lag im unteren Abteil des Etagenbetts, das sie sich mit Mutter und Schwestern teilte, und war schon wieder recht guter Dinge, obwohl ihr Pullover nicht über den Gips passte und der Arm blau gefroren darunter hervorschaute. In der Nissenhütte stand ein kleiner Holzofen, aber er war viel zu weit weg von Larsens Abteil, als dass sie etwas Wärme abbekamen. Kleine Atemwölkchen schwebten zwischen uns, während wir uns unterhielten.
»Brauchst dir um uns keine Sorgen zu machen«, meinte Frau Larsen, »wir Ostpreußen sind kalte Winter gewöhnt. Aber im nächsten Frühjahr gehen wir. Wir sind keine Stadtleute, wir müssen Grün vor Augen haben.«
»Wirklich? Können Sie zurück nach Hause?«
»Sieht nicht so aus, als wollten wir darauf noch warten«, erwiderte Frau Larsen schroff. »In der sowjetischen Zone soll es Höfe geben, da wird Junkerland unter Kleinbauern verteilt. Meine Schwester ist drüben, da dürfen wir vielleicht nachziehen.«
Ich versuchte mich nicht umzusehen. Die sowjetische Zone hatte keinen guten Ruf, aber alles musste besser sein als diese Nissenhütte. Acht Doppelstockbetten, auf die sich vier Familien verteilten, waren notdürftig durch Decken voneinander getrennt. Im Türbereich stand ein Tisch mit zwei Bänken, auf denen man sich abwechseln konnte, einmal täglich gab es Suppe aus einer Gemeinschaftsküche. Es roch nach Schweiß, Essen und dem Qualm des Holzofens, der es nicht zur Gänze durch den Abzug schaffte. Ich begann zu ahnen, warum Leni immer vor ihrer Hütte auf uns wartete, wenn es zur Schule ging, und uns nie hineingebeten hatte.
Ohne Umschweife fragte Sigrid, warum ich nicht mehr zum Schwarzmarkt kam, und da sie ohnehin so lange bohren würde, bis ich es ihr erzählte, rückte ich damit heraus, dass Henry mein Geld »geliehen« hatte, um eine Rechnung zu begleichen. Wann er es zurückzahlen könne, wisse ich nicht, was Sigrid unfassbar und leichtsinnig fand angesichts der bestens bekannten Tatsache, dass man mit der Lebensmittelkarte allein nicht existieren könne.
»Und wie«, hielt sie mir dramatisch vor, »stellt ihr euch nun eure Versorgung vor?«
Über diese ungelöste Frage ereiferte sie sich so sehr, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam zu fragen, welche Art von Rechnung Henry mit dem Geld eigentlich begleichen wollte. Beinahe hätte ich es ihr trotzdem erzählt. Plötzlich tat mir die Vorstellung, Larsens zu verlieren, so leid, dass ich fast alles getan hätte, um noch ein wenig zu bleiben.
Frau Larsen machte mir ein Rübenbro t – »für den Heimweg«, sagte sie, aber ich solle es gleich essen, damit es mir draußen niemand abnahm. Ich sah Leni vor dem Klohäuschen anstehen, als ich ins Freie trat, aber sie drehte sich weg und tat, als hätte sie mich nicht bemerkt.
Sollten wir je wieder nach Hause zurück dürfen, dann würde nicht nur unsere Insel nicht mehr dieselbe sein. Man lernt sich in der Fremde anders kennen, Freundschaften gehen zu Ende, nichts verbindet mehr außer dem Ort, von dem wir kommen. Ich hoffte, dass nicht allzu viele Helgoländer dieselbe Erfahrung machten wie Leni und ich, sonst wusste ich nicht, wie wir je wieder zusammenfinden sollten.
Seit Wochen sparte Mem unsere Fettmarken für einen Kuchen zu Henrys Geburtstag auf und nach kurzer Überlegung gab ich ihr an diesem Nachmittag meine letzten Mehl- und Zuckertütchen. Auf die paar Mark, die ich dafür bekommen hätte, kam es nun auch nicht mehr an. Mem war entsetzt, als ich endlich damit herausrückte, mein Geld sei gestohlen
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