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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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geöffnet wurde. Die Tür flog auf und er stand keuchend im Rahmen, einen sich windenden Wim so fest am Ohr gepackt, dass dieser in die Knie ging.
    In seiner anderen Hand hielt Herr Helmand allerdings keine Pistole, mit seiner anderen Hand wedelte er Mem ein kleines Bündel Papiere ins Gesicht.
    »Ach du meine Güte«, murmelte Ooti.
    »Was ist das?«, fragte Mem verdutzt und nahm Herrn Helmand das Bündel aus der Hand. Mit überraschender Kraft schüttelte dieser die Antwort aus Wim heraus: »Sachen vo n … Herrn Goldstei n … wir heben si e … nur auf!«
    »Sachen von toten Juden!«, flüsterte Herr Helmand. »Hie r … im Haus!«
    Hinter ihm wandte Nora ein: »Der Mann hat den Kindern doch geholfen.«
    »Wir müssen das sofort verbrennen!«
    Herr Helmand ließ Wim los und wollte nach den Papieren greifen, aber ich war bereits hinzugekrückt, so schnell ich konnte.
    »Es wird abgeholt, ich hab den Leuten schon geschrieben!«
    »Du hast was?«, rief Herr Helmand fassungslos.
    Ich nahm Mem das Bündel ab und schob es hinter meinen Rücken, wo es mir sofort aus der Hand gezupft wurde.
    »Ich weiß auch Bescheid«, erklärte Ooti, ließ Papiere und Schlüssel in ihrer Schürzentasche verschwinden und verschränkte die Arme darüber. »Wenn die Sachen jemandem etwas bedeuten, dann sollte dieser sie auch bekommen!«
    »Es sind doch nur ein paar Fotos und Briefe«, sagte Nora leise.
    »Du hältst den Mund«, fuhr Herr Helmand sie an, eine so unvermutete Zurechtweisung, dass sie sich augenblicklich in unseren Gesichtern widerspiegelte.
    Rasch fügte er hinzu: »Ich halte es für keine gute Idee, Sachen von toten Juden aufzubewahren, mein Herz. Wer weiß, was da für Fragen kommen.«
    »Nichts, was wir nicht zu beantworten wüssten, Herr Helmand.« Ich konnte meiner Mutter ansehen, dass auch sie nicht gerade begeistert war von unserer Tat, umso erleichterter war ich, dass sie sich auf unsere Seite stellte. »Der Mann war gut zu den Kindern. Wir verdanken ihm einiges und das kann ich jedem sagen, der es wissen will.«
    »Dann haben Sie bestimmt nichts dagegen, die Sachen dieses Juden in Ihrem Zimmer aufzubewahren«, meinte Herr Helmand scharf.
    »Dieses Herrn Goldstein «, verbesserte Mem und die beiden starrten sich sekundenlang fest in die Augen, bevor Herr Helmand nickte, sich abwandte und die Treppe hinaufstapfte.
    »Vielleicht«, flüsterte Ooti Nora zu, »kommt ihr ein paar Minuten herein, bis er sich beruhigt hat!«
    Augenblicklich schlüpfte Wim an Mem vorbei und Nora kam zwar nicht ins Zimmer, aber erklärte: »Er hat Albträume. Er hat so viel Willkür erleb t … er hat einfach Angst.«
    Hilflos sah sie zu, wie Mem mit der Salbe aus meiner Verbandstasche Wims zerkratztes, blutendes Ohr verarztete. Das war’s dann wohl mit dem tollen Richard, dachte ich. Jetzt hat er sich zu viel herausgenommen!
    Doch obwohl Herr Helmand Nora angeherrscht und Wim nahezu misshandelt hatte, rückten weder sie noch er von ihm ab. Er zog bei uns ein, und wenige Tage später verteilte Wim mit allen Zeichen der Vorfreude die Einladungen zum Hochzeitsessen, das in einem richtigen Restaurant stattfinden würde und zu dem alle Hausbewohner einschließlich des armen Leo eingeladen waren.
    Auch die Militärregierung versuchte uns gegen den Winter auszurüsten. Eine Sonderzuteilung von fünfundzwanzig Kilo Steckrüben pro Haushalt wurde angekündigt und jeder Einzelne von uns ermuntert, Bucheckern zu sammeln, die man eintauschen konnte gegen die Bezugsberechtigung für etwas Speiseöl. Die Zeitungen waren voller Tipps und Rezepte, wie man aus wenig ein wenig mehr machen konnte: einen Tortenboden aus Kaffeesatz, falschen Hackbraten aus Zwiebeln und Kartoffeln, Bratheringe aus Kartoffeln und Hefe, Leberwurst aus künstlich gezüchtetem Eiweiß mit seltsamen Gewürzen. Ein wertvoller Ratschlag lautete, Holz und Kohlen zu sparen, indem man warme Gerichte gegen geringes Entgelt im Ofen einer Bäckerei mitbacken ließ.
    Viele Maßnahmen wurden leider größer angekündigt, als sie sich am Ende herausstellten. Wiederholt wurden in den Zeitungen Lebensmittel aufgerufen, die allein auf dem Papier zu existieren schienen, und vor den Läden kam es beinahe zu Aufständen. Polizisten rückten mit Schlagstöcken an, um die wütende Menge zu vertreiben, und immer öfter mussten sie Lieferungen schützen, sonst drohten die Leute noch auf der Straße darüber herzufallen.
    Solche Szenen hatten wir im vorigen Winter nicht erlebt. Im vorigen Winter, meinte

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