Unterland
worden.
»Es ist einfach passiert«, behauptete ich. »Ich wollte es euch längst sagen, aber ic h … ic h …«
Mem nahm mich in den Arm und auf einmal konnte ich nicht mehr aufhören zu heulen. Das Aus meiner Schwarzmarktkarriere, das Aus für die Tommy-Tüte, das Aus unserer Freundschaft zu Broders. Wim, der mich hinterging, Captain Sullavan, der meiner Mutter den Kopf verdrehte, die drohende Sprengung und das Unheil, das sich über Henry zusammenbraut e … es gab so viele Gründe zu heulen, dass ich plötzlich überhaupt keinen Überblick mehr hatte.
»Wir schaffen das!« Mems Stimme zitterte. »Wir halten zusammen, wir sind stark geworden in diesem Haus. Foor wäre stolz auf uns, Kinder!«
Ich war so erleichtert, sie von Foor sprechen zu hören, dass ich nur noch mehr heulen musste. Henry senkte tief den Kopf über sein Mathebuch, und später an diesem Abend sagte er: »Ich zahl’s dir zurück.«
»Ich will’s nicht zurück«, erwiderte ich. »Ich bin dabei, ob’s dir passt oder nicht. Wenn’s nicht so wäre, hättest du das Geld nicht genommen.«
»Du dabei? Das kommt nicht infrage!«
»Doch, sonst sage ich es Mem.«
Die Entschlossenheit in meiner Stimme überraschte mich und Henry wohl auch, denn er antwortete nach kurzem Zögern: »Na schön. Aber du tust, was ich dir sage.«
»Klar«, gab ich zurück und sah ihm fest in die Augen.
Henry zu begleiten war meine einzige Möglichkeit, die Durchführung des Plans noch zu durchkreuzen.
Niemand rechnete mit einem Besuch von Captain Sullavan, wenn er mit Mem nicht verabredet war. Mit Ausnahme der Bolle-Töchter, die zu ihren verschwiegenen Verabredungen aufgebrochen waren, saßen wir an Henrys Geburtstagsabend alle in der Küche, dem einzigen Raum im Haus, in dem man sich noch ohne Mantel aufhalten konnte. Stühle standen nicht nur am Küchentisch, sondern auch unter dem Fenster, vor dem Küppersbusch und in der geschlossenen Tür. Die Kohlen und Tannenzapfen im Ofen knackten, jeder beschäftigte sich, nachdem der Kuchen millimetergenau durch vierzehn Personen geteilt worden war, mit irgendeiner stillen Arbeit. Der Winter zeigte sich noch einige Tage von einer Seite, die nichts Bedrohliches hatte.
Es war Wim, der am Fenster saß und den Captain als Erster bemerkte. »Der Tommy!«, rief er hell und unerwartet; es war, als hätte jemand den Alarmknopf gedrückt. Mit Herrn Helmand gingen alle Nerven durch, er sprang auf, rannte zur Tür, schubste die Wranitzky, die dort döste, vom Stuhl, flüchtete in den Flur, hetzte die Treppe hinauf.
»Richard«, rief Nora, »es ist nur der Captain!«, aber oben knallte schon die Tür.
»Der arme Mann!«, murmelte Frau Bolle und brach in Schweiß aus.
»Good evening, everybody!«, schallte es fröhlich durch den Flur. »Where’s the birthday boy?«
Henry stand verlegen auf, um den Pappkarton entgegenzunehmen, den der Captain mitbrachte. Fast unwillig schaute er in den Karto n …
… und einen Augenblick später hörte ich ihn japsen. In Leder gebundene Buchrücken schauten uns an, der Lederstrumpf , der Wildhüter , der Schut und sämtliche Bände von Winnetou!
»Aber Colin«, stammelte Mem, »das können wir doch nicht annehmen!«
»Warum nicht? Auf dem Dachboden der Villa sind noch mehr davon!«, verriet der Captain. Er trug seine lässige Uniform, das Mützchen wie immer schief auf dem Kopf, und man kam nicht umhin zu bemerken, wie groß der Unterschied war zwischen diesem gut gelaunten, selbstbewussten Tommy und dem Nervenbündel, das oben womöglich hinterm Schrank kauerte. Wieder schoss mir der Gedanke durch den Kopf, wie schade es doch war, dass Mem den Captain nicht an Nora abgetreten hatte.
»Aber Colin«, wiederholte Mem, »die Bücher gehören doch jemandem.«
»So? Wem denn?«, fragte er herausfordernd und nicht nur Mem erschrak, denn seine Gutmütigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Ärger flog über sein Gesicht wie ein schwarzer Flügel. Ich konnte nicht alles übersetzen, was er sagte, aber genug, um zu verstehen.
»Als die Deutschen Guernsey besetzten«, sagte er schneidend, »haben sie in unseren Häusern gewohnt, unsere Autos und Kutschen gefahren, unsere Weinkeller ausgetrunken und unsere Bibliotheken im Kamin verfeuert. Und du meinst, diese paar Bücher gehörten jemandem?«
Mem sah aus, als würde sie am liebsten im Boden versinken. Captain Sullavan wandte sich wieder an Henry. »Die Bücher sind dein Eigentum, mein Junge, lass dir von niemandem etwas anderes erzählen. Ich
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