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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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wünsche dir ein gutes neues Lebensjahr.«
    Sprach’s und war draußen. Mem war den Tränen nahe.
    »Niemand wird danach fragen, Frau Sievers«, mischte sich Frau Kindler flüsternd ein. »Die Bücher müssen dem Harald gehört haben, aber der Harald ist tot, den haben sie noch zum Volkssturm gehol t …«
    »Am besten«, sagte Ooti nüchtern, »du läufst ihm jetzt ganz schnell hinterher und entschuldigst dich, Wilma.«
    Wir sahen Mem zum Gartentor hasten. Unterdessen warf Henry einen neuerlichen fassungslosen Blick in den Karton.
    »Mensch, alle vier Winnetou«, sagte er benommen. »Gleich alle vier!«
    »Tommys müsste man kennen«, meinte Wim, was wirklich zu weit ging.
    Spitz entgegnete ich: »Henry leiht sie dir bestimmt. Ihr seid doch jetzt so dick befreundet.«
    »Ach ja?«, fragte Nora überrascht. »Das ist aber schön.«
    Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Mem zurückkehrte, erleichtert und gut gelaunt.
    »Jetzt brauchen wir ein Bücherregal für dich«, meinte sie und tat geheimnisvoll; wahrscheinlich hatten die Tommys auch ein solches noch abzugeben.
    »Die Fensterbank tut’s auch«, erwiderte Henry, der sich zwar über die Bücher freute, sie aber von jedem anderen lieber genommen hätte als von Captain Sullavan.
    Mem sah ihn enttäuscht an. Dann meinte sie ein wenig zaghaft: »Colin will dafür sorgen, dass wir ein Carepaket bekommen. Der mag euch!«
    Plötzlich war ich so müde, dass meine Arme wie Gewichte rechts und links der Stuhlkante hingen. In diesen letzten Oktobertagen kam es mir vor, als warteten wir alle nur noch darauf, dass die Dinge ihren Lauf nahmen. Man spricht nicht umsonst vom Wintereinbruch . Wir hatten uns vorbereitet, eingestellt, gewappnet, aber der Winter, der Hunger und der Lauf der Dinge würden uns dennoch so heimtückisch und rücksichtslos überraschen wie ein Dieb.

17

    Anfang November hatten wir Dauerfrost und man musste kein Ostpreuße sein, um zu ahnen, was das für die kommenden Monate bedeutete. Im Stillen hoffte ich, dass der Winter Henrys Pläne durchkreuzte, dass der Frost anhielt, die Kohleförderung unterbrochen und der private Zugverkehr eingestellt wurde, sodass wir aus Hamburg gar nicht erst herauskamen. Aber Mitte November legte der Winter eine Pause ein und Henry teilte mir mit, dass es Zeit wurde.
    »Du kannst es dir noch überlegen«, sagte er.
    »Du auch«, erwiderte ich.
    Doch Henry warf mir einen Blick zu, der fast an Wim erinnerte, und gab mir zu verstehen, dass er die Sache bereits so lange hinausgezögert hatte, wie es ging.
    »Hast du denn alles zusammen?«, fragte ich verzagt.
    Er nickte nur, und wo die Pistole die ganze Zeit gewesen war, erfuhr ich, als mein Bruder an Bolles Tür klopfte und Sandra ihm einen fest mit Kordel umwickelten Karton herausgab. Er hatte Bolles erzählt, darin sei eine Überraschung für Me m – was möglicherweise nicht einmal gelogen war.
    Die Munition bestand aus Patronen, die Henry den Sommer über geduldig aus den Trümmern gebuddelt hatte. Ich sah mir das Sammelsurium an und stellte verdutzt fest: »Die haben ja alle verschiedene Größen.«
    Worauf Henry einräumte, Pistole und Munition nie zusammen aufbewahrt, sie also auch noch nicht ausprobiert zu haben! Eins dieser zahlreichen Geschosse würde jedoch passen, das sagten ihm die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
    »Henry«, fragte ich dumpf, »du hast nicht einmal geübt?«
    Mein Bruder zuckte mit den Schultern. »Er wird direkt vor uns stehen. Ich kann ihn gar nicht verfehlen.«
    Er hatte wahrscheinlich nur einen einzigen Schuss, ich brauchte ihm also bloß in den Arm zu fallen! Die Vorstellung, jemandem in den Arm zu fallen, der eine Pistole hielt, schmückte ich allerdings lieber nicht weiter aus.
    Es hätte mich kaum überrascht, wenn Henry über Nacht heimlich und ohne mich verschwunden wäre, aber als ich aufwachte, saß er auf der Matratze und las seinen Schut und niemand außer mir merkte, dass er die Seiten nicht umblättert e – genau wie Wim an dem Tag, als er und Nora darauf warten mussten, dass Frau Kindler sie ins Haus ließ.
    Mem goss Wasser in die Schüssel und wir erledigten nacheinander unsere Morgentoilette. Seit wir eine Gemeinschaftsküche mit ständigem Zutritt hatten, wuschen wir uns auf dem Zimmer, was immerhin den Vorteil hatte, dass mich niemand mehr mit meinem Bein unterm Arm durch den Flur hüpfen sah.
    An diesem Morgen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich unsere vertraute Runde in der Küche vielleicht zum letzten Mal

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