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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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waschen abends die Haare! Wie willst du sie jetzt trocken bekommen, vor dem Weg zur Schule?«
    Ooti hatte mittlerweile die Holzkiste geöffnet, in der wir unsere Lebensmittel aufbewahrten, und die vier dünnen Schnitten Brot herausgenommen, die wir am Abend aufgespart hatten. Heute würde es also wieder heißen: anstehen und hoffen. Jede Familie besaß eine solche Kiste, die sie nach der Küchenzeit wieder mit ins Zimmer nahm, damit, wie Mem es ausdrückte, es nicht zu Missverständnissen kam. Die einzige missverständnisgefährdete Kiste war in meinen Augen allerdings die der Bolles; in unserer und der Wranitzky-Kiste war meist nur Brot, das nach Sägespänen schmeckte, und allenfalls ein paar Steckrüben, die auf Strom zum Kochen warteten.
    »Wim muss heute auf jeden Fall mit zur Schule!«, fing ich wieder an. »Wir werden gewogen für die Schulspeisung und er sollte besser dabei sein. Sie hatten gestern ja nicht einmal Brot.«
    »Wir konnten nichts abgeben, Alice«, fuhr Mem mich an. »Oder hättest du heute hungrig zur Schule gehen wollen?«
    »Ich hab doch gar nichts gesagt!«, protestierte ich, aber Ooti schnitt mir schon das Wort ab: »Das Thema haben wir durch, denke ich. Frau Wollank hat deutlich genug gemacht, dass sie von unserem Wenigen überhaupt nichts nehmen würde.«
    »Trotzdem. Bolles hätten etwas geben können«, murmelte ich, während ich unsere drei Teller auf den Tisch stellte. Einen vierten hatten wir noch nicht organisieren können, aber immerhin besaßen wir vier angeschlagene Tassen aus Frau Kindlers Keller, in denen zuletzt Gummiringe und gebrauchte Nägel aufbewahrt worden waren. Sicherlich hatten sie, als sie im Keller vor sich hin träumten, nicht erwartet, dass mit ihnen noch einmal umgegangen werden würde wie mit Ausstellungsstücken aus Schloss Sanssouci.
    »Fang das nicht an, Alice, bitte«, beschwor mich Mem. »Jede Familie ist für sich allein zuständig. Wir können nicht auch noch die Verantwortung für andere übernehmen.«
    »Würdest du zusehen, wie sie verhungern?«
    »So weit wird es nicht kommen. Mit ihrem Aussehen und Auftrete n … nein, da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen«, erwiderte Mem spitz.
    »Wilm a …«, brummte Ooti warnend.
    »Du meinst, sie schmeißt sich an die Tommys ran?« Ich dachte nicht daran, ihnen den Gefallen zu tun, vorzugeben, ich wüsste noch nicht, was los war. »Dann wäre sie«, fügte ich giftig hinzu, »nicht die Einzige hier im Haus.«
    Mist, verwünschte ich mich aus tiefstem Herzen. Jetzt habe ich doch davon angefangen!
    »Was willst du damit sagen?«, entrüstete sich Mem sofort.
    »Frag Henry.«
    Das wurde ja immer schlimmer! Ich wollte doch überhaupt nicht wissen, was Henry hinter dem Zaun gemacht hatte!
    »Henry? Wieso Henry?«, fragte Mem irritiert.
    Vielleicht hätte ich es damit versuchen sollen, mir den Mund zuzuhalten.
    »Wenn sie uns kennen«, antwortete mein Bruder bedächtig und an niemand anderen gerichtet als an mich, »schmeißen sie uns vielleicht nicht aus dem Haus.«
    »Kann mir endlich jemand sagen, wovon ihr redet?«
    »Henry war gestern hinter dem Zaun!«
    Ich schleuderte die Worte von mir wie einen Fehdehandschuh. Henry richtete sich kerzengerade auf.
    »Sag mal, hörst du nicht richtig? Ich hab doch gerade gesagt, warum!«
    »Stimmt! Ich glaub tatsächlich, ich hör nicht richtig! Kenne n …! «
    »Sei still und lass uns essen, Alice«, schnitt Mem mir das Wort ab. »Kinderkram könnt ihr auf dem Schulweg ausmachen.«
    »Kinderkra m …?«
    Langsam begann ich zu klingen wie eine Platte, die einen Sprung hat.
    »Glaubst du, du bist die Einzig e …«, begann Henry von Neuem.
    »Paul Henry Sievers!«, rief Ooti warnend.
    Wir setzten uns. » … die nicht lieber zu Hause wäre?«, vollendete mein Bruder den Satz.
    Seinen Worten folgte Schweigen. Das lag daran, dass unsere morgendliche Schnitte Brot, sobald wir uns zu Tisch gesetzt hatten, ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte. Im Radio war empfohlen worden, jeden Bissen nicht nur langsam zu kauen, sondern mit Hingabe ; eine achtsame Art des Essens, hieß es, stelle größeres Sättigungsgefühl her und könne den Nährwert des Lebensmittels gleichsam vervielfachen.
    Wenn das stimmte, lauerte an diesem Vormittag der große Hunger auf mich, so wenig konnte ich mich auf mein Brot konzentrieren. Ehe ich michs versah, war meine Schnitte weg, ohne dass ich viel davon mitbekommen hatte, und ich durfte mit durchhängendem Magen auf die Teller der anderen

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