Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
blicken, auf denen mehr als die Hälfte der Morgenration noch übrig war. Nach einer Minute hielt ich es nicht mehr aus und erklärte: »Die Tommys wollen uns doch überhaupt nicht kennen.«
    Niemand antwortete. Mem, Ooti und Henry aßen ihre dünnen Brote, als stünden sie unter einer Art Trance, und es fiel schwer, ihnen zuzusehen. Dabei hatte das mit der Hingabe, wenn ich ehrlich sein sollte, bei mir sowieso nicht funktioniert. Ich hatte immer Hunger, egal mit welcher Geschwindigkeit ich nicht satt geworden war.
    »Du sagst immer, wir müssten sie verstehen«, sagte ich zu Mem, »in England müssten sie auch noch auf vieles verzichten. Aber wie soll ich das denn glauben? Sieh dir nur mal an, wie stolz sie herumlaufen. Warme Wintermäntel, warme Stiefel, dieses blöde Käppi schief auf dem Kop f … wir haben gewonnen! Na, herzlichen Glückwunsch. Ist das ein Grund, ihre Mülltonnen zu bewachen? Auch einem Feind darf man wenigstens die Abfälle gönnen!«
    Mem hatte eine besonders andächtige Art des Essens: Nach jedem zweiten Bissen Brot nahm sie einen winzigen Schluck kalten Muckefuck, bewegte ihn kurz im Mund und ließ ihn langsam die Kehle herunterrinnen. Es war wirklich ekelhaft.
    »Wenn einer von ihnen Lust auf unser Haus hat, sind wir draußen, selbst wenn Henry dreimal am Tag Winkewinke macht«, versuchte ich es erneut.
    Noch immer keine Antwort. Aber ich gab nicht auf. »Helgoland ist ihnen auch egal. Soll ich euch mal was sagen? Es gibt überhaupt keine Liste, die sie abarbeiten. Wenn es eine Liste gäbe, müsste ja langsam irgendetwas anfangen zu funktionieren. Aber nicht nur können wir frieren, bis wir blau werden, sondern es fällt sogar der Strom aus, weil auch die E-Werke keine Kohle bekommen. Güterverkehr zwischen den Zonen eingestellt, das ist doch zum Lachen! Die Alliierten mögen gewonnen haben, aber im Griff haben sie nichts.«
    »Das mit den Mülltonnen sind nicht die Tommys«, bemerkte Henry.
    »Amis, Tommys, das ist doch dasselbe!«, schnappte ich.
    Eisig fragte Mem: »Fändest du es besser, wenn unsere noch an der Macht wären? Dann kann ich dir versichern, liebes Kind: Wenn unsere noch was zu sagen hätten, wärest du für deine Kritik vor Gericht gestellt worden.«
    »Quatsch«, empörte ich mich. »Kinder doch nicht!«
    »Da könntest du Recht haben. Sie hätten stattdessen mich mitgenommen!«
    Habe ich schon erwähnt, dass meine Mutter eine unschlagbare Art hat, anderen Leuten das Wort im Mund umzudrehen?
    Mit einem Blick auf die Uhr stand sie auf und ließ kaltes Wasser in die Spüle, um flüchtig und ohne Seife unser Geschirr abzuwaschen. Henry stand ebenfalls auf und griff zum Handtuch, was normalerweise meine Aufgabe gewesen wäre, aber er wollte wohl verhindern, dass Mem und ich in unserer Wut nun auch noch nebeneinander an der Spüle standen.
    »Die Tommys sind gar nicht so übel«, fing er wieder an. »Sie wollten wissen, warum ich einen englischen Namen habe. Ich hab ihnen erzählt, woher wir kommen und dass Ooti sogar noch als Engländerin geboren ist, weil ja Helgoland bis 1890 britisch war.«
    »Prima, jetzt erinnerst du sie auch noch daran!«, rief ich. »Hast du sie vielleicht auch schon eingeladen, es sich zurückzuholen?«
    Augenblicklich sah Henry wieder wütend aus. »Du spinnst ja. Ned und Tom, mit denen ich gesprochen habe, sind ganz jung, die haben sowieso nichts zu sagen!«
    »Na, dann ist es ja noch egaler, ob sie uns kennen oder nicht!«
    »Was sagte noch mal dieser Psychologe neulich im Radio?«, wandte sich Mem an Ooti. »Diese Sendung über Erziehung, von der du mir erzählt hast? Die meisten Jugendlichen versuchten nicht aufzufallen und ihren Eltern alles recht zu machen, um ihnen zusätzliche Sorgen zu ersparen?«
    »Unsere Alice kann er dabei wohl nicht gemeint haben«, soufflierte Ooti zu meiner Enttäuschung.
    »Aber Henry, den Tommy-Freund!«, rief ich den Tränen nahe.
    Mem seufzte. »Bin ich froh, dass unsere Nachbarn kein Halunder verstehen.«
    »Dem Himmel sei Dank für Helgoländer Friesisch«, bekräftigte Ooti.
    Wie aufs Stichwort klopfte es zaghaft und rücksichtsvoll. »Frau Siever s …? Sie sind schon zwei Minuten drübe r …«
    Frau Bolle trat erschrocken einen Schritt zurück, als Mem sofort die Küchentür öffnete. Sandra und Brigitte warteten schon hinter ihrer Mutter, die abgewetzten Lappen über der Schulter, die als Handtücher dienten, auf den Lippen ein scheues Lächeln. Bolles schienen ständig um Verzeihung dafür zu bitten, dass

Weitere Kostenlose Bücher