Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
sie hier ware n – als ob sie irgendetwas dafürkonnten! Bei den anderen Flüchtlingen konnten sie deshalb nicht sehr beliebt sein, meinte Ooti.
    »Entschuldigen Sie bitt e …«
    »Nicht doch, Frau Bolle, es ist an mir, mich zu entschuldigen! Ich muss besser auf die Zeit achten«, wehrte Mem ab, und Ooti ergänzte: »Sonst fliegt hier alles auseinander.«
    »Sie sind nicht gekommen«, sagte Frau Bolle mit einem Blick nach oben. »So dachten wir, wir könnten vielleicht heute doch noch um siebe n …«
    Ich drückte mich an ihnen vorbei und stieg die Treppe hinauf, ohne Henry noch eines Blickes zu würdigen. Ned und Tom! Allein die Tommy-Namen zu denken bewirkte immerhin, dass ich den Schmerz in meinem Bein vergaß und ruck, zuck oben war.
    »Wim? Du solltest besser mit zur Schule kommen. Wir werden heute gewogen, weil es für bedürftige Schüler demnächst ein Mittagessen geben soll.«
    Ich starrte das Muster an der Tür an und überlegte, ob es unhöflich war, ein zweites Mal zu klopfen.
    »Um teilzunehmen, müssen wir ein geeignetes Gefäß mitbringen. Das braucht kein Teller zu sein, eine leere Konservendose geht auch. Du hättest noch ein paar Tage Zeit, etwas zu finden.«
    Ich legte ein Ohr an die Tür. Drinnen hörte man Schritte, wenigstens einer von beiden war demnach auf den Beinen.
    »Also, wenn du mitkommen wills t … Henry und ich gehen in einer halben Stunde los und zeigen dir gern den Weg.«
    Langsam deutete einiges darauf hin, dass dies der Tag der Monologe werden würde.
    Ich war die Einzige auf der ganzen Schule, deren Schultasche vom großen Bruder getragen wurde. Dabei sah Henry lächerlicher aus als ich, waren Krücken doch ein vertrautes Bild auf den Straßen, aber wie so vieles stand er auch dieses vergleichsweise kleine Unbehagen scheinbar gleichgültig durch, bis unsere Klassenkameraden irgendwann die Lust verloren, ihn damit aufzuziehen.
    Im Grunde wären Henry und ich mit nur einer gemeinsamen Tasche gut ausgekommen, da sich fast nichts darin befand: Es gab kein Papier, keine Bücher, es gab nur unsere abwischbaren, selbst gebastelten Folientafeln mit je einem Bleistiftstummel, doch das wenige, was wir bei der Evakuierung gerettet hatten, wollten wir schließlich benutzen.
    Jeden Morgen waren Henry und ich fast eine halbe Stunde unterwegs. Was nützt eine Berechtigung zum ermäßigten Straßenbahnfahren, wenn die Bahn auf unserer Strecke noch gar nicht fuhr? Mem, Ooti und die drei Bolle s – die Wranitzky musste nicht arbeiten, weil sie kleine Kinder hatt e – begleiteten uns auf dem ersten Stück des Weges, bevor sie sich an den ehemaligen Straßenbahnschienen nach rechts verabschiedeten und wir nach links. Frau Bolle und Mem klopften Steine, Sandra und Brigitte arbeiteten in einer Fabrik.
    Jeden Tag nahm sich meine Mutter von Neuem vor, durchzuhalten. »Heute geht es meinem Rücken gut! Er spürt, dass es Frühling wird«, behauptete sie an diesem Morgen.
    Trotzdem war ich ziemlich sicher, sie wieder mit blassem, schuldbewusstem Gesicht im Haus anzutreffen, wenn wir aus der Schule zurückkamen. Obwohl Ooti schon fast siebzig war und nicht mehr hätte arbeiten müssen, löste sie, nachdem sie den Vormittag mit dem Aufspüren von Lebensmitteln zugebracht hatte, Mem gegen Mittag beim Steineklopfen ab. Beide hießen »W. Sievers« und die Vorarbeiterin drückte ein Auge zu. Ohne Arbeitseinsatz hätte Mem keine Lebensmittelkarte erhalten und das hieß verhungern.
    Dass die Schulen nur wenige Monate nach der Kapitulation wieder geöffnet worden waren, pries Mem als Wohltat der Tommys, zu der sie nicht verpflichtet gewesen wären, und als Weisheit zugleich, denn man müsse uns Kinder von der Straße holen . Weder in Hamburg noch auf Helgoland hatte es zuletzt Unterricht gegeben, weil Gebäude nicht mehr standen oder Lehrer eingezogen worden waren; viel mehr Lehrer als damals waren allerdings auch jetzt nicht zu haben, da sie entweder gefallen waren oder sich im Schwebezustand ihrer noch nicht abgeschlossenen Entnazifizierung befanden. Weniger als ein halbes Dutzend Entlastete hatten die Tommys in unserem Viertel zusammengerafft, an der Spitze Graber mit der Eisenhand, der nicht etwa so hieß, weil ihm eine Hand fehlte, sondern weil e r – ganz im Gegentei l – zum Schlagen keinen Stock brauchte.
    Graber mit der Eisenhand, bis vor Kurzem noch Pensionär, herrschte jetzt über dreihundertzwanzig Schüler, drei Kollegen und drei Klassenräume. Die Hälfte von uns hatte vormittags

Weitere Kostenlose Bücher