Unterland
einzurücken, wie er es nannte, der Rest am frühen Nachmittag. In Henrys und meiner Klass e – der zusammengefassten Sechsten, Siebten und Achten, die Graber persönlich unterrichtet e – saßen zweiundsechzig Schüler auf achtzehn Dreierbänken und drei Fenstersimsen, und die zweiundsechzig trudelten in diesen Tagen tatsächlich alle wieder ein, denn der Winter war vorüber und auch die Kinder ohne Schuhe hatten keine Entschuldigung mehr, dem Unterricht fernzubleiben.
Unlustig sahen wir mehrere in dieselbe Richtung trudeln, deren Namen wir schon fast vergessen hatten; die Aktion Schulspeisung musste sich herumgesprochen haben. Sie schlenderten und schlurften, als hätten sie Blei an den Füßen, und waren keinen Deut schneller als ich.
»Moin, Henry! Moin, Tock-tock!« Einige überholten wir sogar.
Wo die Bomben eine breite, schnurgerade Schneise ins Viertel gerissen hatten, standen zwölf abgerundete Wellblechhütten, in denen mehrere aus unserer Klasse wohnten. Ordentlich hintereinander aufgereiht, erinnerten die Nissenhütten an die Waggons einer Eisenbahn, fast als sollte das Vorübergehende dieser Einrichtung schon von Weitem erkennbar sein. Ich hielt es allerdings für kein gutes Omen, dass die Lok fehlte.
Auch eine Helgoländer Familie, die Broders, hatte es dorthin verschlagen. Wie jeden Morgen wartete Leni bereits auf uns, da sie sich allein nicht an der übernächsten Hütte vorbeitraute. Zu drit t – zwei Mädchen an die Fersen eines unbeirrt voranschreitenden, mit zwei Schultaschen bewehrten Jungen gehefte t – bildeten wir unser Bollwerk gegen die Larsen-Schwestern.
»Vorsicht, es stinkt nach Fisch!«, tönte es, kaum dass sich Leni uns angeschlossen hatte, und die drei blonden, bloßfüßigen Hexen sprangen wie Kasperlepuppen hinter ihrer Wellblechwand hervor. »Und da kommen sie endlic h – unsere Hoheiten, die Helgoländer!«
Mit zusammengebissenen Zähnen marschierten wir an dem tiefen Diener vorbei, in den die Larsens gesunken waren, um gleich darau f – wir kannten das ja scho n – hochzuschnellen und in den Ausruf »Sie leben hoch! Hoch! Hoch!« auszubrechen. Bei jedem Hoch! traf eine Salve Sand unseren Rücken, unser Haar, und Leni drängte sich so dicht an mich, dass sie uns beide eines Tages noch zu Fall bringen würde.
»Lange halte ich das nicht mehr aus!«, klagte sie. »Wann können wir endlich nach Hause?«
»Sei doch still, Leni, musst du ihnen unbedingt den Gefallen tun und heulen?«, zischte ich.
»Ich heul doch auf Halunder!«, jammerte sie.
Bis auf den Schulhof verfolgten uns die Larsen-Hexen mit ihren höhnischen Rufen. Wahrscheinlich war es der einzige Höhepunkt in ihrem trübseligen Leben. Warum sie einen solchen Hass auf uns entwickelten, wusste ich nicht, da wir noch nie ein Wort mit einer von ihnen gesprochen oder sie auch nur schief angesehen hatten.
Es war allerdings keine der Larsens, die den Namen Tock-tock erfunden hatte. Tock-tock kam vom Graber persönlich, und da Graber von jedem einzelnen Schüler unserer Schule vehement gehasst wurde, kam sein boshafter Name für mich einer Auszeichnung gleich. Wenn Graber Tock-tock sagte, geschah dies in einem ganz anderen Ton, als wenn meine Klassenkameraden mich so riefen; ihr Tock-tock hatte etwas Heiteres, Gutmütiges, aus dem ich heraushörte, dass sie sich in Wirklichkeit mit mir verbünden wollten.
Auch wenn sie sonst nicht mit mir redeten, denn die Hamburger Kinder, Flüchtlingskinder und wir drei Helgoländer blieben die meiste Zeit unter uns.
Den Grund, warum Graber mich nicht beim Vornamen anredete, konnte ich nur vermuten: Es handelte sich um einen englischen Namen. Henry nannte er Heinrich, aber für Alice fiel ihm vielleicht kein deutsches Gegenstück ein. Kamen Tommys an unsere Schule, was ab und zu geschah, schwirrte Graber so beflissen um sie herum, dass er fast buckelte; schließlich waren sie es gewesen, die ihn für unbedenklich erklärt und als Direktor eingesetzt hatten. Aber uns gegenüber machte er keinen Hehl daraus, was er in Wahrheit von ihnen hielt.
An diesem Morgen parkte der Tommy-Sanka bereits auf dem Schulhof, als wir mit den Larsens im Rücken eintrafen, und zwei Krankenschwestern und ein traurig blickender Arzt waren damit beschäftigt, Köfferchen und eine große Waage zu entladen. Jeder, der vorbeiging, schielte in froher Erwartung in den Wagen, auch ich, obwohl uns bereits angekündigt worden war, dass erst einmal nur unsere Berechtigung zur Schulspeisung untersucht werden
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