Unterland
streckte die Hand aus und mich beschlich ein ganz seltsames Gefüh l … eine Art Fluchtreflex gebremst von freudigem Schreck. Kein Zweifel, Wim wollte mir den Arm um die Schulter legen! Erst als er merkte, dass das wegen der Krücken im Gehen zu kompliziert werden würde, klopfte er mir nur auf den Rücken.
»Aber uns«, sagte er entschlossen, »kriegen sie nicht.«
Wenn ich irgendetwas gelernt hatte in den letzten Jahren, dann dies: Die Leute beurteilen einen nicht nach dem, was man hat, sondern nach dem, was einem fehlt. Wenn ich das schönste Gesicht der Welt gehabt, eine Serie brillanter Witze von mir gegeben oder gleich vor Ort, in ihrem Beisein, eine so geniale Erfindung gemacht hätte wie den selbst rechnenden Füllfederhalter oder ein Telefon für die Hosentasche: egal. Wenn Leute mich kennenlernten, sahen sie nichts als meine Krücken. Erst wenn sie sich daran gewöhnt hatten, merkten sie, dass es auch noch anderes gab, und wenn sie mich von früher kannten, stellten sie mitunter sogar fest, dass ich eigentlich immer noch dieselbe alte Alice war.
Man musste Geduld mit ihnen haben. Einige kamen schnell darauf, bei anderen dauerte es länger. Nie zuvor jedoch war ich jemandem begegnet, der meine Krücken keine vierundzwanzig Stunden nach unserem Kennenlernen bereits vergessen hatt e – und sei es nur für einen Augenblick.
Gut, die Wolldecke und das Geschirr hätten wir gebrauchen können. Aber was sollten wir mit einer leeren Schatulle anfangen, oder einer Waschschüssel? Wer brauchte eine abgeplatzte alte Schüssel, wenn er ein richtiges Waschbecken in der Küche hatte?
Na also. Alles halb so schlimm.
Den Rest vergaß ich einfach. Helgoland sprengen! Wer hatte sich dieses dümmste aller Gerüchte wohl wieder ausgedacht?
6
Eine strafbare Handlung zu begehen, hatte ich mir komplizierter vorgestellt. Aufregender, geheimnisvoller, gefährliche r … auf keinen Fall so simpel und schnell erledigt wie unser erstes Geschäft auf dem schwarzen Markt.
Die vor dem Altonaer Bahnhof auf und ab schlendernden Gestalten hätte man für Fahrgäste halten können, die die Zeit totschlugen; erst auf den zweiten Blick erkannte man die Wachsamkeit der Gesichter und hörte ein stetes, geduldiges Raunen: »Zucker! « – »Brot! « – »Speck! « – »Butter!«
Nach einem kurzen Blickkontakt, einem Nicken gingen Händler und Kunde auseinander, trafen sich in einem Hauseingang oder einem Café und die Ware wechselt e – gegen Zigaretten, Geld oder Tauschgu t – den Besitzer.
Ich hielt mich dicht neben Wim und hörte ihn murmeln: »Suche Glühbirne n … wer hat Glühbirne n … jemand hier Glühbirnen?«
Plötzlich machte ein Mann eine jähe Kopfbewegung, die offenbar »Hier!« bedeutete, denn Wim zeigte blitzschnell etwas aus der Hosentasche, der Mann nickte und gab einem Jungen einen Wink. Dieser flitzte davon, der Mann ging ein paar Schritte beiseite, wir standen wieder herum.
»Sein Lager muss ganz in der Nähe sein!«, flüsterte Wim.
»Was hast du ihm angeboten?«, flüsterte ich zurück.
Nach kurzem Zögern griff Wim in die Hosentasche und zog ein Taschenmesser heraus. Ein schönes, praktisches Taschenmesser mit vielen Klingen. Das Taschenmesser, das wir soeben im ersten Tauschladen gesehen hatten. Langsam hob ich den Kopf. »Keine Panik«, sagte Wim lässig, »das sind wir gleich wieder los.«
Er hatte Recht. In weniger als zwei Minuten war der Junge zurück, das Messer wanderte in seine und ein Päckchen mit zwei Glühbirnen in Wims Manteltasche. Dabei flüsterte Wim dem Jungen, der kaum älter sein konnte als wir, noch etwas zu, aber dieser schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich ab.
»Was wolltest du wissen?«, fragte ich, während wir uns rasch entfernten. Die gesamte Transaktion hatte nicht mehr als zehn Minuten gedauert und ich fühlte mein Herz bis zum Hals schlagen vor Erleichterung, dass wir das Messer los waren. Wie schnell es ging, eine strafbare Handlung zu begehen. Wie einfach und selbstverständlich es geworden war.
»Ich brauche einen Job«, erwiderte Wim. »Was der kann, kann ich auch. Aber natürlich hilft er mir nicht, der will schließlich keine Konkurrenz.«
»Und was springt dabei heraus, bei so einem Job? «
Es fühlte sich seltsam an, das englische Wort in den Mund zu nehmen, seltsam und kühn wie der Sprung in eine neue Zeit. Wim warf mir einen seiner schrägen Blicke zu. »Auf jeden Fall mehr als eine Suppe von den Tommys«, antwortete er.
»Aber du musst doch zur
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