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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sich selbst.
    »Fahren wir erst einmal hin und sehen nach, was da ist«, beschloss Mem endlich und erstellte des besseren Überblicks wegen eine kluge, wohldurchdachte, ausführlich mit jedem von uns diskutierte Liste unseres zurückgelassenen Besitzes in der Reihenfolge seiner Wichtigkeit für unsere Hamburger Situation. »Was wir nicht gleich mitnehmen können, stellen wir vorübergehend unter. Wir haben ja jetzt genügend Freunde in Cuxhave n …«
    Der letzte Fliegeralarm, den ich im Hochbunker erlebt hatte, war zwar erst ein halbes Jahr her, dennoch hatte ich schon beinahe vergessen, wie endlos lang ein Tag sein konnte. Immer wieder schauten Ooti oder ich aus dem Fenster, dabei wussten wir, dass Mem und Henry vor Anbruch der Dunkelheit unmöglich zurück sein konnten. Vielleicht würden sie sogar in Cuxhaven übernachten müssen, um nicht in die Ausgangssperre zu geraten. Je länger wir warten mussten, desto kribbeliger und streitlustiger wurden wir, bis wir gegen Abend schon fast nicht mehr miteinander redeten.
    Die beiden Gestalten, die in der Dämmerung auf unsere Haustür zukamen, erkannten wir trotzdem erst auf den zweiten Blick. Sie hatten zwar Koffer dabei, aber diese waren so leicht, dass eine der beiden Personen sie mühelos allein tragen konnte. Genau genommen sahen die Koffer gänzlich leer aus, es konnte sich also nicht um unsere handeln, die gar nicht reichen würden für all die sehnsüchtig erwarteten Dinge, die Mem und Henry aus Cuxhaven zurückbrachten!
    Mem begann zu weinen, als sie ins Zimmer trat. Das kam so selten vor, dass ich augenblicklich einstimmte, obwohl ich noch gar nicht wusste, warum.
    »Wir sind eine Stunde zu spät gekommen!«, schluchzte sie.
    Henry war blass und ließ sie reden; bis er selbst wieder sprach, wurde es Morgen. Dann aber sagte er just die Worte, die mir selbst die ganze Nacht im Kopf herumgegangen waren: »Ausgeraubt. Von Helgoländern. Wie ist das möglich?«
    Wer unsere Waschschüssel, das Kaffeegeschirr und die Decke im Tauschladen abgegeben hatt e … ich wollte es gar nicht wissen. Vielleicht war es ein Fischer, wie der Polizist vermutete, vielleicht aber war alles noch viel schlimmer und einer von uns hatte uns betrogen. War mit zwei Anhängern aufgetaucht, während die meisten Nachbarn sich noch auf ihrem Weg nach Cuxhaven befunden hatten, und hatte die Lagerhalle von Kleidungsstücken, Hausrat und Geschirr befrei t – mit der Behauptung, er oder sie habe auf der Insel zwei Läden besessen.
    Viele, die sich nach Cuxhaven aufgemacht hatten, wurden mit leeren Händen zurückgeschickt. Was ein freudiges Wiedersehen hätte werden können, fiel aus. Hoffentlich mussten wir den Namen desjenigen, der uns das angetan hatte, nie erfahren.
    »Ich kann’s nicht glauben«, sagte Wim. »Ich kann’s einfach nicht glauben, dass jeder, jeder, jeder in unsere Wohnungen spazieren und sich herausnehmen darf, was er will, und das ist dann nicht einmal Diebstahl!«
    »In eure Wohnung auc h …?«
    »Natürlich, was denkst denn du. Ein paar Sachen durften wir mitnehmen, aber für jede einzelne mussten wir die tschechische Familie, die bei uns eingezogen ist, um Erlaubnis fragen. Meine Geige zum Beispiel, die ist in Aussig geblieben. Oder Jacko, mein Papagei. Ich kann nur hoffen, es geht ihm gut«, antwortete Wim und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah ich ihn niedergeschlagen.
    Ich öffnete den Mund und hörte mich sagen: »Meinen Hund haben sie umgebracht.«
    Wim sah mich traurig an.
    »Die meisten Helgoländer Hunde hatten die Bomben überlebt, obwohl sie nicht mit in den Bunker durften. Moortje hat sich gefreut wie verrückt, er ist um uns herumgetanzt und hörte gar nicht mehr auf zu bellen; wahrscheinlich hat er berichtet, wo er sich versteckt hatt e …«
    Es war das erste Mal, dass ich jemandem davon erzählte, und ich kam genau so weit, bevor mir die Stimme versagte.
    »Du durftest ihn nicht mitnehmen?«, fragte Wim leise.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Er wurde erschossen, weil ihr die Insel verlassen musstet?«
    Als ich nickte, sagte Wim: »Die Hunde wären allein doch verhungert und verdurstet.«
    Ich nickte wieder, aber den Rest erzählte ich nicht. Wie die Hunde in eine Grube geführt wurden, wo alte Männer vom Volkssturm mit Flinten warteten. Wie die Hunde kapierten, was mit ihnen geschehen würde. Wie sie anfingen zu bellen und zu heulen.
    Wie die Männer weinten, als sie von der Grube zurückkamen. Die Hundebesitzer mit ihren schlaffen Leinen.
    Wim

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