Unterland
wie ich jetzt erkannte: Wer sein Hitler-Picture, Orden oder andere Nazi-Andenken aufgehoben hatte, wurde mit Zigaretten gleich stangenweise belohnt! Staunend sahen wir einen alten Mann die leibhaftige Schnupftabakdose von Joseph Goebbels anbieten.
»Goebbels, indeed! Do you have anything owned by Göring?«, fragte ein Tommy. Der redselige, im Gefängnis erschlankende Hermann Göring war so etwas wie der Star unter den Kriegsverbrechern.
»Natural«, antwortete der Mann und präsentierte aus den Tiefen seines Mantels genau dieselbe Dose noch einmal. »Zis is original snuff tobacco pot of Göring.«
Die Soldaten lachten, klopften ihm auf die Schulter und gingen weiter. Ich war drauf und dran, anstelle des Mannes im Boden zu versinken, aber Wim meinte anerkennend: »Der macht es richtig. Der kommt durch!«
Wie zwischen Jahrmarktbuden schlenderten die Tommys die Schwarzmarktverkäufer mit ihren kleinen Habseligkeiten ab, blieben mal hier stehen, hielten dort einen kleinen Plausch oder ließen sich etwas vorführen. Lebhaft feilschten sie mit einem Mann um dessen Schallplattensammlung, ich hörte ihr Lachen und sah das angestrengte Grinsen des Mannes tiefe Falten in sein Gesicht graben.
»Come on, fifty cigarettes! That’s a good price!«
Es war ein Spaß für sie, weiter nichts. Besser noch als Kino: Die verrückten Deutschen demütigen sich auf dem Schwarzmarkt. Leichte Übelkeit stieg meine Speiseröhre hoch, wie ich sie vom Hunger kannte, aber heute Morgen hatte ich gegessen, also musste es etwas anderes sein. Erkenntnis, wenn sie unerwartet kommt, kann auch schwindlig machen.
»Sie werden uns nie wieder respektieren«, entfuhr es mir.
»Nein, das ist klar«, erwiderte Wim unbekümmert.
Aber dann kommen wir nie nach Hause!
Und endlich, mit vierundzwanzig Stunden Verspätung, kam Henrys Idee auch bei mir an: dass unsere Rückkehr nach Helgoland davon abhängen konnte, was die Tommys von uns dachten.
Was sahen sie, wenn sie auf uns blickten? Den Film von der Befreiung des Lagers in der Lüneburger Heide, von dem Mem erzählt hatte? Zu Skeletten abgemagerte Menschen am Stacheldrahtzaun, nackte Tote in Massengräber n … mehr war aus Mem nicht herauszubekommen. »Das erklären sie dir schon in der Schule«, behauptete sie.
Der Graber? Niemals.
Einer aus jeder Familie hatte sich den Film ansehen müssen, sonst wären uns die Lebensmittelkarten entzogen worden. Montgomerys Brief fiel mir wieder ein und was er uns vorgeworfen hatte: Schlachtfelder in ganz Europa, ein Führer, der sich heiser brüllte, jubelnde Massen in Stadien. Plötzlich erinnerte ich mich, dass alles, was vom Festland kam, laut gewesen war, bis hin zur aufgeregten Stimme des Wochenschausprechers.
Und jetzt? Zerlumptes Volk, zertrümmerte Städte, das hässliche Gesicht des Hungers, selbst kleine Kinder waren nicht mehr niedlich. Mit den Augen der Tommys auf uns zu blicken war so deprimierend, dass ich lieber gleich wieder aufhörte. Wim hatte Recht: Auf falsche Schnupftabakdosen kam es nicht mehr an.
»Mensch, Alice«, meinte Wim, als könnte er in meinen Kopf blicken. »So laufen die Dinge jetzt nun mal. Wenn wir gegessen haben, können wir auch wieder über die Ehre nachdenken, aber bitte eins nach dem anderen.«
Er griff in seine Manteltasche und förderte ein kleines Stück Holz zutage, von dem er geschickt zwei Ecken abbrach. Eins steckte er selbst in den Mund, das andere bot er mir an. »Echt sudetische Baumrinde. Magenfreundlich, sehr zu empfehlen!«
Kühn nahm ich das Holzstückchen und schob es zwischen die Zähne. Es schmeckte, wie ich mir ranziges Gras vorstellte, produzierte aber überraschend viel Speichel und mein Hunger ließ nach. »Dass du auf ein Bügelbrett reinfälls t …!«, zog ich Wim auf.
Mit hochgezogenen Brauen antwortete er: »Es ist erst Mittag. Es kann noch viel passieren! Wer Aussig überlebt hat, schafft alles.«
Damals hörte ich ihn zum ersten Mal: Wims Wahlspruch, mit dem er sich immer wieder Mut machte, sein Motto, an das er felsenfest zu glauben schien.
»Was war denn da, in Aussig?«
»Erzähl ich dir späte r – oder vielleicht nicht. Eigentlich spielt es schon keine Rolle mehr.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete ich schnippisch. »Ihr geht nach Südamerika. Das musst du mir nicht noch mal erzählen, ich hab’s schon kapiert.«
»Gar nichts hast du«, sagte er, und hätte er nicht gleich darauf wieder gelächel t … ich hätte schwören können, seine Stimme sei so feindselig und kalt
Weitere Kostenlose Bücher