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Unterland

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Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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anderen ausziehen, weil sonst alle erfahren, dass sie eine Beinprothese trägt. Das können sich die meisten zwar sowieso denken, und wer es sich bis jetzt noch nicht denken kann, wird es bald sehen, weil ihre Prothese nicht mehr lange mitmacht und es Monate dauern kann, bis sie eine neue bekommt. Aber egal, wenn meine Schwester etwas nicht will, dann will sie nicht.«
    Das war eine der längsten und vorwurfsvollsten Reden, die Henry je an mich gerichtet hatte, und so dankbar ich hätte sein müssen, dass er sich wieder einmal für mich eingesetzt hatte, so ärgerlich, ja nahezu beleidigt war ich, ausgerechnet jetzt darauf gestoßen zu werden.
    »Die blöde Schulspeisung!«, schnappte ich. »An die hab ich schon gar nicht mehr gedacht.«

7

    Mittwochs ab vier haderte ich. Hadern kommt von Hades und bedeutet nichts anderes, als dass man in sich herumwühlt und alles Mögliche zutage grübelt. Mittwochs ab vier lag offen und bloß, was meine persönliche Unterwelt an anderen Tagen erfolgreich verborgen hielt, und nein, ich spreche nicht davon, dass ich vor aller Augen meine Prothese ausziehen musste. Beim Krüppelturnen zog jeder irgendetwas aus, es kümmerte mich längst nicht mehr und ich fand mein Bei n – zart und verletzlich, wie es vor mir auf der Matte la g – trotz allem immer noch schöner und liebenswerter als sämtliche unansehnlichen Männerbeine ringsum.
    Mittwochs, wenn ich mein armes schutzloses Bein auf der Matte liegen sah, dachte ich auch überhaupt nicht mehr daran, dass es die ganze Woche geschmerzt und mich geärgert hatte; mittwochs hatte ich nur einen Wunsch: es zu beschützen und zu trösten.
    »Dein Stumpf sieht nicht gut aus, Alice«, mahnte Schwester Angela, sobald ich meine langen Hosen ausgezogen hatte.
    Dein Stumpf! Anfangs hatte ich mir noch die Mühe gemacht, sie darauf hinzuweisen, dass es sich bitte schön immer noch um mein Bein handelte, aber zwecklos, am nächsten Mittwoch hatte sie es vergessen. Das Wort Stumpf war es, was mich zum Hadern, manchmal sogar zum Heulen brachte, aber unbarmherzig zwang mich Mem jeden Mittwochnachmittag zur Turnstunde; es stelle, und damit lag sie wahrscheinlich nicht einmal falsch, meine beste Möglichkeit dar, bei der Krankenkasse nicht in Vergessenheit zu geraten.
    »Meine Tochter braucht dringend eine neue Prothese«, erwiderte Mem mit großer Regelmäßigkeit die immer gleiche Mahnung von Schwester Angela, »Sie sehen es ja selbst.«
    Und Schwester Angela antwortete zwar nich t – sie wusste schließlich genau, dass kriegsversehrte Arbeiter und Familienväter bei der Zuteilung von Körperersatzstücken bevorzugt wurde n – aber das hieß ja nicht, dass sie nicht irgendwo von mir Meldung machte. Nur ein Kind, aber kooperativ, kommt regelmäßig mit seiner Mutter zur Rehabilitationsmaßnahme, und ehe ich’s vergesse: Der Stumpf sieht nicht gut aus.
    Mit etwas Glück rückte ich schon donnerstags ein kleines Stück höher auf der Warteliste. Nur damit hielt Mem mich bei der Stange. Die Übungen selbst waren es gewiss nicht!
    »Ich lasse das Blut durch meinen Körper fließe n … ich konzentriere mic h … jetzt spüre ich meine Zehe n … meine linken Zehen! … ich wackle mit meinen Zehe n … ich hebe den Fu ß … meinen linken Fuß! … ich beuge meinen linken Fuß ganz langsam vor und zurüc k … vor und zurüc k …«
    Das Krüppelturnen diente der Durchblutung unserer Gliedmaßen und Schwester Angela empfahl uns dringend, die Übungen zu Hause zu wiederholen, damit unsere Muskulatur nicht abstarb. So etwas könne leicht passieren, warnte sie, sie zeigte uns Fotos davon, was abgestorbenen Stümpfen blühte, und seitdem konzentrierte ich mich wie verrückt darauf, mit meinen nicht mehr anwesenden linken Zehen zu wackeln.
    »Ganz warm wird mein linker Fu ß … ganz warm, bis in die Zehe n … ich spüre meinen warmen linken Fu ß …«
    Erstaunlicherweise spürte ich nicht nur, dass mein linker Fuß warm wurde. Ich spürte die Kühle der Matte an meiner Ferse, ich spürte die Zwischenräume zwischen meinen Zehen, wenn ich mit ihnen wackelte. Ich spürte mein linkes Bein, wie es friedlich und schwer neben dem rechten lag, als wollte es sagen: War irgendwa s …?
    Das Gemeine war bloß: Zum Schluss schlug ich die Augen auf und wo ich mein warmes, schweres Bein spürte, lag ein Stumpf . Lag da, als sähe ich ihn zum ersten Mal.
    Ich hasste das Krüppelturnen.
    Wenn ich nur eine Minute länger im Schulhaus geblieben wär e … eine halbe

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