Unterland
Minute! Zwanzig Sekunden hätten vielleicht auch gereicht. Ich hätte nur auf Henry zu warten brauchen, der die Tafel gewischt hatte. Rechenaufgaben. Fräulein Pietschs kleine akkurate Handschrift. Aber damals wartete ich noch nicht auf Henry oder er auf mich; damals gingen wir beide noch mit unseren jeweiligen Freunden nach Hause.
»Meinst du nicht, ich sollte euren Herrn Goldstein mal kennenlernen?«, fragte Mem.
Unwillig erwiderte ich: »Kennenlernen? Mensch, Mem, das ist der Schwarzmarkt! Da gibt es keinen Elternsprechtag.«
Es hätte auch gereicht, wenn ich rechts gegangen wäre. Meiner Freundin Gitte war nichts passiert, nur mir und Gerda, die direkt hinter uns ging. Ob sie es überhaupt mitbekommen hatte? Ich lag im Dreck keine drei Meter von ihr entfernt, aufgewühlte Pflastersteine, regennasser Matsch und noch keine Ahnung, was mit mir selbst los war, aber dass Gerda nicht mehr lebte, erkannte ich auf den ersten Blick. Über mir tauchte das entsetzte Gesicht von Henry auf, der den Mund auf und zu klappte wie ein Fisch. Ich fing an zu heulen, weil ich dachte, dass sie ihm die Stimme weggeschossen hätten. Erst am übernächsten Morgen konnte ich wieder etwas höre n – der Schock, wurde mir erklärt.
Seitdem ging ich immer rechts, wenn ich mit jemandem unterwegs war. Nicht, dass ich anderen etwas Böses wünschte, besonders nicht Mem, Ooti oder Henry, die meist meine Begleiter waren, aber einmal die Dumme gewesen zu sein, war genug. Das musste jeder verstehen.
Ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem. Auf dem Rückweg vom Krüppelturnen war Mem eine Zielscheibe und wusste es nicht einmal.
»Was, wenn ihr erwischt werdet?«, fragte sie beunruhigt. »Dann seid ihr eure Ware los und wir haben trotzdem Schulden bei diesem Mann. Habt ihr ihm etwa gesagt, wo wir wohnen?«
Ich musste lachen. »Herr Goldstein hat ein Lager voller Waren! Eine Stange Zigaretten mehr oder weniger merkt er gar nicht, er will lediglich sehen, ob wir es schaffen, damit zu Geld zu kommen. Es ist wie ein Experiment.«
»So weit ist es mit uns gekommen«, klagte Mem. »Meine zwölfjährige Tochte r – eine Schwarzhändlerin! Ich gebe zu, dass es das Einzige ist, was uns im Moment über Wasser hält. Eintausend Kalorien wären zwei Schnitten Brot, zwei Kartoffeln und ein Schälchen Brühe, davon kann keiner leben. Ich wünschte trotzdem, wir könnten auf das alles verzichten.«
»Auf den Schwarzmarkt oder auf Herrn Goldstein?«
»Sei still, Alice. Irgendwann wirst du schon verstehen.«
Ich war still. Ich verschwieg, dass ich bereits zu verstehen begonnen hatte.
Selbst auf Helgoland, wo bereits die kleinsten Kinder jedes einzelne Haus kennen, begleiten uns unsere Mütter in den ersten Tagen zur Schule. Sie passen auf, dass wir unsere Schuhe binden und unsere Jacke knöpfen lernen, sie wachen darüber, dass wir unsere Mütze nicht vergessen. Sie rüsten uns aus, damit uns draußen nichts passiert. Aber sie sagen uns nicht alles. Vieles, was zu wissen kolossal wichtig wäre, behalten sie für sich, sie tun, als sei es gar nicht da. Sie lassen uns frontal in die Geheimnisse hineinlaufen.
»Wir sind die Nachfahren von Beethoven, Bach und Schiller«, beschwor uns Graber. »Diese anderen Dinge, die sie euch weismachen wolle n … diese angeblichen Morde an Frauen und Kindern, diese Lage r … das ist niemals passiert, glaubt ihnen bloß nicht! Diese Bilder sind alle gestellt. Zu so etwas sind wir Deutschen gar nicht fähig.«
»Gab es denn mehrere Lager, Herr Graber?«
Ich hatte gar nicht überlegt; erst als ich aufgestanden war, merkte ich, wie dünn und kalt die Luft hier oben wa r – über den Köpfen der anderen, schweigenden Kinder.
Graber guckte. »Was sagst du da?«
»Sie sagten: diese Lager. Gab es denn noch mehr? Ich habe nur von dem einen in der Lüneburger Heide gehört.«
Er musste sich nicht weit bewegen, um sich vor mir aufzutürmen, Henry, Leni und ich saßen schließlich in der ersten Bank. Ich merkte, wie Henry verzweifelt an meinem linken Arm zog, damit ich mich bloß wieder setzte.
»Hast du nicht zugehört, Tock-tock?«, fragte Graber leise. »Was habe ich gerade gesagt?«
»Sie sagte n …« Ich musste schlucken. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, worauf er hinauswollte. »Sie sagten, diese Lage r …«
»Ja?«, donnerte er mir direkt ins Gesicht. Das schleifende Geräusch zu meiner Rechten verriet, dass die Krücken, die ich während des Unterrichts seitlich gegen die Bank lehnte, beiseite rutschten;
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