Unterland
der Blitz hatte ich den Beutel vom Hals, Wim nahm ihn mir aus der Hand und übergab ihn dem Mann, dann kam er mit zwei großen Schritten hastig zu mir zurück.
Prüfend warf der Mann einen Blick in den Beutel, wohl um zu kontrollieren, ob etwas fehlte. Mir wurde ganz heiß dabei, aber offenbar war alles in Ordnung.
»Soso«, bemerkte der Mann nun schon zum dritten Mal. »Ehrliche kleine Deutsche, das gefällt mir . – Einerseits.«
Mit harten Augen sah er uns an. Zusätzlich zum Schwitzen bekam ich sofort einen trockenen Hal s – zu trocken, um den Kloß herunterzuschlucken, der darin festsaß.
»Andererseits«, fuhr der Mann streng fort, »wollt ihr entlohnt werden für euren bescheidenen kleinen Dienst.«
»Nein, nein«, versicherte Wim hastig. »Wir wollten nur sicherstellen, dass der Beutel nicht verloren geht. Wir machen keine Scherereien, ganz ehrlich. Wir gehen jetzt, in Ordnung? Wir sagen niemandem ein Wort, Sie sehen uns nie wieder.«
»Sieh sie dir an, Gustav«, sagte der Mann zu dem Jungen. »Maul aufreißen und gleichzeitig buckel n – so sind sie, die Deutschen.«
»Stimmt ja gar nicht!«
Ich war so empört, dass ich erst nach einer Schrecksekunde merkte, dass ich ihm widersprochen hatte. Der Mann schien darüber nicht minder erstaunt als ich.
»Wir haben Ihren Beutel gerettet und Sie sagen nicht mal Danke«, fügte ich wesentlich leiser hinzu.
Der Mann lächelte. »Keine Angst?«, fragte er.
»Nein«, log ich.
»Was ist dir passiert?«
»Tiefflieger. Und Wim hie r …«
Wim guckte mich entgeistert an. Ich kann nicht sagen, was mich rit t – vielleicht der Wunsch, wenigstens mit erhobenem Kopf aus der Sache herauszukommen. »Wim hier«, wiederholte ich bedeutungsvoll, »hat Aussig überlebt!«
Der Lodenmantelmann legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Es war das erschreckendste Geräusch, das ich je gehört hatte, es knallte gegen die schwarzen Hauswände wie die Salve aus einem Maschinengewehr.
»Aussi g … Auschwit z … da kommen wir ja fast aus demselben Ort«, meinte er.
Der Junge lachte nicht, er sah sogar noch finsterer drein. Besonders als der Mann in seine Tasche griff und eine ganze Stange Chesterfields zutage förderte.
»Was würdet ihr damit machen?«, fragte er im Plauderton.
Beim Anblick der »Amis« fand Wim sofort die Sprache wieder. »Investieren«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »In Mehl. Zucker. Alles, was sich in kleinen Mengen weiterverkaufen lässt.«
»Und der Gewinn?«
Wim grinste. »Reinvestieren. Erst selber essen, wenn genug übrig bleibt.«
»Falsch.«
Wims Grinsen erlosch.
»Erst selber essen, wenn ihr mir die Stange zurückgezahlt habt«, sagte der Mann und hielt die Chesterfields nicht ihm, sondern mir hin, obwohl er Wim dabei ansah.
Ich griff zu. Ohne ein weiteres Wort wandte der Mann sich ab und ging zurück ins Haus.
Der Junge blieb und sah uns neidisch an.
»Wie heißt er überhaupt, der Boss?«, fragte ich.
»Herr Goldstein«, antwortete der Junge. »Versucht nicht, ihn zu bescheißen, das rate ich euch. Mann«, sagte er ungläubig. »Ihr habt wohl mehr Glück als Verstand.«
Kopfschüttelnd ging er an uns vorbei zur Straße, wo sich bereits erste Händler wieder einfanden, die der Razzia entkommen waren.
Zwei Minuten später hatten wir die Stange geöffnet und zwei Packungen aufgerissen, denn Zigaretten wurden einzeln verkauft und getauscht.
Zehn Minuten später kannten wir den Wechselkurs des Tages für Brot, Kaffee, Butter, Büchsenfleisch, Zucker, Mehl und andere Herrlichkeiten, die für Zigarettenwährung angeboten wurden. Ich schaute Wim zu, wie man hin- und hertauschte: zehn Amis für ein Brot, ein Brot für ein Herrenhemd, das Hemd gegen einen Gürtel, den Gürtel gegen zehn Amis.
»Gewinn hast du jetzt aber noch nicht«, wandte ich ein.
»Ich muss mich erst mal warm laufen«, meinte Wim und tauschte im nächsten Versuch ein Pfund Butter, das sich in Zucker, Speckscheiben, Kaffee und Mehl verwandeln konnte. Es war wie ein Spiel, bei dem es darauf ankam, durch Geschicklichkeit und Glück mehr herauszubekommen, als man investiert hatte. Hätte Wim das Mehl zurückgetauscht, hätte er am Ende zwei Zigaretten weniger erhalten, als er eingesetzt hatte, aber er strahlte.
»Dieser komische Typ hat uns praktisch einen Laden hingestellt, Alice!«
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Junge, der für Herrn Goldstein arbeitete, uns noch immer beobachtete. »Vergiss nicht, dass der Laden nur geliehen ist«,
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