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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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warum? Was heißt das überhaup t – DPs?«
    »Displaced persons. Das sind di e … die Leute aus dem Lager.«
    Das letzte Wort sagte Mem so leise, dass es kaum zu verstehen war, aber das Wort und ihr Tonfall reichten, um meine Kopfhaut prickeln zu lassen wie eine Ameisenstraße. Das Lager! Das Lager in der Lüneburger Heide, über das niemand reden wollte.
    »Wir könnten uns etwas hinzuverdienen«, kam mir Wim zu Hilfe. »Das würde uns allen helfen. Aus welchem Grund sollte Alice nicht mehr mitkommen?«
    Mem fuhr sich durchs Haar, als ob sie es am liebsten gerauft hätte. »Weil diese Leute uns hassen, Wim. Wir müssen uns von ihnen fernhalten, sie sind unberechenbar.«
    »Wie viel Zinsen verlangt er denn, der Jude?«, fragte der arme Leo argwöhnisch.
    »Keine. Er hat nur gesagt, dass wir die Zigaretten zurückzahlen sollen, wenn sie Gewinn abwerfen«, erklärte Wim. »Herr Goldstein hat nicht versucht, uns zu bescheiße n … ganz im Gegensatz zu einigen anderen Leuten, mit denen wir heute zu tun hatten.«
    »Ja, ja, heute gewinnen sie euer Vertrauen«, orakelte der arme Leo, »und morgen schneiden sie euch den Kopf ab.«
    »Lächerlich!« Frau Wollank schleuderte das Wort geradezu von sich. »Die Juden haben allen Grund, uns zu hassen, aber sie müssen genau wie wir einen neuen Anfang machen. Gegen die Kinder haben sie nichts in der Hand.«
    Mit einem Gesicht, als wollte sie jeden Augenblick anfangen zu weinen, sagte Ooti: »Ich kannte mal ein Ehepaar Goldstein. Du müsstest dich doch auch an sie erinnern, Le o … ein älteres Ehepaar, sie kamen immer zur selben Zeit wie ih r …«
    Der arme Leo nickte stumm. »Soll ich Herrn Goldstein fragen«, bot ich an, dankbar für jeden Strohhalm, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. »Vielleicht sind es Verwandte.«
    »Ach, Alice«, murmelte Ooti traurig.
    Eine trostlose Stimmung lag plötzlich im Raum. Ich hätte noch die dringende Frage gehabt, aus welchem Grund Herr Goldstein mir den Kopf überhaupt würde abschneiden wollen, aber ich hielt lieber den Mund.
    Denn plötzlich wusste ich genau, dass ich wieder hingehen würde, egal was Mem sagte. Herr Goldstein war nicht gerade, was ich freundlich genannt hätte, aber ich hatte nicht einen Augenblick das Gefühl gehabt, dass er mich hasste. Was ist dir passiert, hatte er gefragt, als ob es eine Rolle spielte.
    Ob auch ich das würde fragen dürfen: Was ist Ihnen passier t …?
    Zu meiner Überraschung sagte Frau Wollank: »Wenn du irgendwelche Fragen über die Lager hast, Alice, kannst du ruhig zu mir kommen. Ich kenne mich ein wenig aus.«
    Sie drehte sich aus dem Türrahmen, geschmeidig wie eine Balletttänzerin, und fügte über die Schulter hinzu: »Komm, Wim, wir sind noch nicht dran mit der Küche.«
    Im Hinausgehen warf dieser mir einen ermutigenden Blick zu und mich beschlich ein weiteres untrügliches Gefühl: Aus irgendeinem Grund hatte Frau Wollank mit ihrer Aufforderung dafür gesorgt, dass das Thema beendet war und zumindest an diesem Abend niemand mehr auf Herrn Goldstein und das Lager zu sprechen kommen würde.
    Tatsächlich machte Mem später, als wir auf den Matratzen lagen und dem Geräusch unserer endlich wieder beschäftigten Mägen nachhorchten, nur noch eine einzige Bemerkung. Sie sagte: »Wegen des Schwarzmarkts oder der Schulden bei diesem Juden mache ich mir weniger Sorgen als wegen der Wollanks. Sie gefallen mir nicht. Ich weiß, dass ich dir den Umgang nicht verbieten kann, Alice, besonders da wir nun Tür an Tür wohnen. Aber tu mir den Gefallen und pass ein bisschen auf, ja?«
    » Dieser Jude heißt Herr Goldstein«, sagte ich, legte die Hand auf meinen angenehm grummelnden Bauch und ließ den Tag Revue passieren. Denn man konnte es drehen und wenden, wie man wollte: Ich verdankte ihn ausgerechnet meinem Bein! Mein Bein war nicht nur schuld daran, dass ich vor der Wiegeaktion geflüchtet und Wim und Herrn Goldstein begegnet war; auch die freudige Überraschung, dass Wim meine Krücken für einen Augenblick vergessen hatte, wäre mir ohne mein Bein glatt entgangen.
    Jener eine kleine Augenblick! Jene einzige Situation, in der meine Krücken mir an diesem Tag im Weg gewesen waren, blieb die, an die ich am liebsten zurückdachte.
    »Übrigen s …«, sagte Henry plötzlich.
    Unwillig schlug ich die Augen wieder auf.
    » … du kannst an der Schulspeisung teilnehmen, auch ohne untersucht worden zu sein. Ich habe dem Arzt gesagt, was los ist: ›Meine Schwester kann sich nicht vor den

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