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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mit Schleifchen überreichte. Nie wäre ihr über die Lippen gekommen, Mem habe keine Ahnung . Frau Wollank sagte: »Für jemanden, der sein Lebtag nicht von einer zwei Quadratkilometer großen Insel heruntergekommen ist, hat deine Mutter bewundernswerten Durchblick.«
    »Meine Mutter kommt aus Hannover«, erwiderte ich in Bedrängnis, »sie ist erst mit zwanzig nach Helgoland gekommen«, während ich mich gleichzeitig des Verdachts nicht erwehren konnte, dass ich gerade einen kleinen Verrat an allen meinen Freunden und Verwandten beging, mich selbst eingeschlossen. »Mem spricht vier Sprachen!«, zählte ich auf. »Deutsch, Englisch, Französisch und Halunder.«
    »Donnerwetter. Das muss ihr erst mal einer nachmachen«, sagte Frau Wollank.
    »Mein Bruder Henry schreibt für eine Zeitung.«
    Dies entsprach beinahe der Wahrheit, denn dass es James’ Zeitung noch nicht gab, war schließlich nicht Henrys Schuld. »Was du nicht sagst!«, erwiderte Frau Wollank und selbst Wim blickte überrascht und beeindruckt.
    So ermutigt, fiel mir auch noch etwas anderes ein, was ich meinen Vater hatte sagen hören. »Und Ooti«, teilte ich ihr mit, »wird unterschätzt.«
    Frau Wollank lachte. »Aber doch nicht von mir!«, rief sie aus. »Deine Großmutter ist eine hinreißende alte Dame, ich vergöttere sie!«
    Mit solchen Liebenswürdigkeiten gewann sie mein Herz schnell zurück, und noch während ich mit ihnen auf dem Sofa saß, beim Aufziehen eines alten Pullovers half, dessen Wolle gefärbt, gepresst und neu verstrickt werden sollte (wofür Wim die Nadeln aus alten Fahrradspeichen zurechtfeilte), freute ich mich auf den nächsten Abend, an dem ich die beiden wiedersehen würde. Mehr noch: Ich spürte deutlich, dass es ihnen ebenso ging, dass sie gern Besuch empfingen, selbst wenn e s – in Ermangelung eines Freundeskreise s – momentan nur das Mädchen aus dem Erdgeschoss war. In Aussig mussten sie ein hochinteressantes, abwechslungsreiches Leben geführt haben; seit ihrem Auftauchen streifte ein Hauch von Kultur den Kiekebuschweg.
    Dennoch war ich nicht sehr glücklich, dass Wim seine Mutter zum Hamstern mitnahm. Ich wäre lieber mit ihm allein gefahren. Mem wusste nichts von der geplanten Tour und das schlechte Gewissen ihr gegenüber wog nun, da eine andere Mutter in unsere Heimlichkeiten eingeweiht worden war, um ein Vielfaches schwerer. Hätte er mich nicht wenigstens fragen müsse n …?
    Ich hatte meine Schultasche und den Behälter für die Schulspeisung dabei, eine ausgediente Blechbüchse, durch die wir am oberen Rand ein Loch gebohrt hatten, um sie an den Schulterriemen binden zu können. Mem glaubte mich schließlich in der Schule und Henry hatte zwar nichts verraten, mir aber unmissverständlich erklärt: »Bitte schön, wenn du in der Lage bist, auf einen Hamsterzug aufzuspringen, dann kannst du dir auch die Tasche selbst tragen.«
    Die Schultasche war jedoch praktisch, denn Wim konnte Nägel und Schrauben, die er zum Tauschen mitnahm, darin verstauen und die Tasche für mich übernehmen. Er hatte die besten Stücke aus seiner Sammlung ausgewählt: gefeilt und entrostet, dicke und dünne Nägel in verschiedenen Größen, dazu weitere Exemplare seiner Fahrradspeichen-Stricknadeln mitsamt eines kleinen Knäuels Wolle, um demonstrieren zu können, dass die Nadeln funktionierten.
    »Es gibt so gut wie kein Gerümpel, das man nicht noch gebrauchen kann«, hatte er mich belehrt.
    Frau Wollank trug einen leeren Rucksack, den sie aus ihrer Wolldecke genäht hatte. Sie hatte mir abends zuvor gezeigt, wie sie die geflochtenen Schnüre, wenn sie die Decke zum Schlafen brauchte, ruckzuck aus den angebrachten Ösen wieder herausziehen konnte. Bei der Gelegenheit war mir dann zufällig aufgefallen, dass sie die Absicht hatte mitzufahren.
    Mit der U-Bahn gelangten wir zum Hauptbahnhof, von wo Züge sowohl in Richtung »Hamsterland « – Ruhrgebiet und Niedersachse n – als auch ins nahe gelegene Alte Land fuhren, für das Wim und ich uns entschieden hatten, da wir nur eine Tagesreise machen wollten. (Ich hoffte, dass er mit seiner Mutter nicht auch hier etwas anderes besprochen hatte!)
    Als wir ankamen, herrschte das übliche Gedränge von Bettlern und Händlern, von obdachlosen Kriegsheimkehrern und mit Sack und Pack gestrandeten Flüchtlingen. Manchen Soldaten fehlte ein Arm oder Bein, einige trugen Augenbinden; ein beidseitig Amputierter hatte seinen halben Körper auf ein Brett mit vier Rollen gestellt, bewegte es mit

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