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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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nach seitlich-hinten weg, ein leises Kratzen an der Zugwan d – meine Krücken! Erschrocken ließ ich das Fensterbrett los, um sie festzuhalten, schwebte über Stahlträgern und grauem Wasser, wurde am Kragen gepackt. Mein Aufschrei blieb mir in der Kehle stecken.
    »Ich hab sie«, rief Frau Wollank, die ich hinter mir fast vergessen hatte, »halt dich bloß fest.«
    Ich klammerte mich ans Fensterbrett und schnappte nach Luft. Mein Herz schien sich explosionsartig ausgedehnt zu haben, ein Gefühl, als wollte es mir die Rippen brechen.
    »Mensch, Kleine!«, sagte die Frau am Fenster kopfschüttelnd und ließ meinen Mantelkragen los.
    Wim bedankte sich an meiner Stelle. Es dauerte lange, bis ich wieder einen Ton herausbrachte.
    Das Alte Land in den Elbmarschen südlich von Hamburg war, wie ich schon von Ooti wusste, vorwiegend Obstanbaugebiet, aber auf den meisten Höfen pickten Hühner und Gänse, standen Kühe und Schweine im Stall. Hinter den Deichen erstreckten sich schnurgerade schmale Ackerflächen und größere Obstplantagen, an deren Ende, zur Straße hin, jeweils ein Gehöft lag. Noch sah alles grau und schmutzig aus, doch in nur wenigen Wochen würden die Kirschbäume in voller Blüte stehen.
    Wim hatte Recht: Die Trittbrettfahrer hatten die besten Plätze. Wo immer eine größere Anzahl Höfe in der weiten, flachen Landschaft sich anbot, sprangen die Leute einfach ab. Wir sahen den Ersten nach, wie sie mit ihren Rucksäcken über Wiesen stapften, in denen noch knöcheltief das Tauwasser stand, oder am Rande glitschiger Felder schlitterten (man wollte den Bauern ja nicht von vornherein verärgern, indem man ihm durch die Saat lief).
    Wir sahen den Ersten nach und ich dachte: Das war’s. Während der Fahrt hatte ich vorübergehend in der Hoffnung Zuflucht gefunden, von den ersten Springern abschauen zu können, wie man landete; stattdessen schlug ich nun mit voller Wucht auf dem Boden der Tatsachen auf. Die Leute landeten nicht einfach im Gleisbett, sondern erhielten durch den fahrenden Zug so viel Schwung, dass sie mehrere Meter mitlaufen mussten, bevor sie überhaupt zum Stehen kamen!
    »Ich brauche eine Krücke!«, schrie ich Frau Wollank zu und kämpfte Panik nieder.
    Die beiden hatten mich gerade auffordern wollen, mich bereit zu machen; nun hielten sie sich wieder fest und tauschten Blicke. »Bloß nicht, die zerbricht!«, rief Frau Wollank.
    Der Rhythmus des Zuges trommelte in meinem Ohr, zu meinen Füßen schien das Gleisbett selbst Fahrt aufzunehme n – in die Gegenrichtung.
    »Ich schaff es nicht!«, rief ich verzweifelt. »Springt ihr, ich fahre zurück!«
    »Auf keinen Fall«, rief Wim, ließ seinen rechten Arm unter meinem linken hindurchgleiten und packte mich fest um die Taille. Ich war so verblüfft, dass ich ihm automatisch den Arm über die Schulter legte. »Mit dem rechten Fuß landen und parallel zum Zug mitlaufen!«, rief er. »Ein s … zwe i …«
    »Wim!«, schrie seine Mutter.
    Aber da waren wir gesprungen, da liefen wir schon, da hatte ich wieder ein linkes Bein, das mich trug! Da waren der Sprung, die Landung, der Lauf so schnell zu Ende, dass ich kaum dazu kam, zu begreifen, was ich tat: Ich, Tock-tock Sievers, rannte! Ich rannte mindestens zehn Schritte!
    Und ich konnte niemandem sagen, welch eine Sensation das war. Wim und Frau Wollank lachten über mein verdutztes Gesicht. »Alles in Ordnung?«, fragten sie.
    Rasch tastete ich am linken Knie abwärts und stellte fest, dass alles ein bisschen schief saß, sich aber noch komplett am Platz befand. »Alles in Ordnung«, bestätigte ich, während ich das Bein im Schutze meiner langen Hose unauffällig wieder zurechtrückte.
    Plötzlich fühlte ich mich ganz leicht, ganz frei. Es war tatsächlich geschehen: Ich war von einem Zug abgesprungen, ich war gerannt! Wims starker, sicherer Arm, der Gleichklang unserer Schritt e … alles hatte gepasst.
    Ich warf ihm einen Seitenblick zu, fühlte, wie ich errötete, und dachte: Das könnten wir glatt noch mal versuchen!
    Das Hochgefühl hielt etwa eine halbe Minute. Meine Krücken blieben in der matschigen Wiese stecken und sämtliche anderen Hamsterer, die mit uns abgesprungen waren, überholten uns einer nach dem anderen.
    »Geht’s, Alice?«, fragte Wim, und gleichzeitig mit meinem Nicken antwortete Frau Wollank: »Alles geht, wenn es muss.«
    Sie hatte es aufmunternd gesagt, aber nur allzu deutlich spürte ich ihre Ungeduld, und während wir weiterschlichen, kam ich langsam zur

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