Unterland
sei n – und sei es auf dem Trittbrett eines fahrenden Zuges! Möwen kreischten, Schiffsmotoren tuckerten, während wir in Richtung der Elbbrücken fuhren. Nicht dass das gemächliche Dahingleiten des Flusses mit dem Rauschen des Meeres zu vergleichen gewesen wäre, oder das Lüftchen, das die langsame Fahrt des Zuges entfachte, mit dem scharfen Inselwind, der an Haaren und Kleidern zerrte. Henry und mich hatte es im letzten Frühjahr und Sommer einige Male ans Elbufer gezogen, aber überrascht und enttäuscht hatten wir festgestellt, dass es uns nichts bedeutete. Wasser war nicht gleich Wasser und Hamburger Wasser nicht »zu Hause«.
Doch glich es einem Stich ins Herz, mir bewusst zu machen, dass der Zug nach Cuxhaven fuhr. Die Schienen führten nach Cuxhaven, die Deiche führten nach Cuxhaven, und auch der Fluss nahm dieselbe Richtung wie wir: das offene Meer.
Und wenn ich einfach stehen blie b …?
Es gab zahlreiche Helgoländer, die sich in der Nähe der Alten Liebe, unseres früheren Fähranlegers, eine Bleibe gesucht hatten. Bestimmt würde mich jemand über Nacht aufnehmen. Niemand konnte mich zwingen, im Alten Land vom Zug zu springen! Wenn ich schon Ärger mit Mem bekam, sollte es sich dann nicht wenigstens lohnen? Näher würde ich unserer Insel so schnell nicht mehr kommen.
»Letztes Jahr hat die Polizei die Elbbrücken gesperrt, um die Hamsterer aufzuhalten!«, rief Wim mir zu. »Dass sie sie jetzt wieder durchlassen heißt, dass sie langsam einsehen, dass es nicht anders geht!«
Was geht mich das an, dachte ich. Ich will doch nur nach Cuxhaven!
»Im Ruhrgebiet sind sie schon weiter. Da geht sogar die Rede, dass Hamstern für den persönlichen Gebrauch erlaubt werden soll!«
Ehrlich gesagt ging Wim mir noch vor den Elbbrücken ziemlich auf die Nerven. Konnte er nicht einfach still sein und mich träumen lassen?
»Mem, Ooti und Henry fahren jeden Samstag hamstern«, sagte ich ungeduldig. »Von wegen Kochtöpfe und Bratpfannen! Man verbraucht mehr Kalorien durchs Herumrennen, als man durch die paar gehamsterten Lebensmittel wieder hereinbekommt. Die Bauern geben nichts, es sei denn, du rückst zufälligerweise einen Anzug heraus, der genau die Größe hat, die der Bauer trägt.«
»Einen Anzug gegen ein paar Pfund Kartoffeln«, bestätigte eine Frau, die aus dem Zugfenster vor uns lehnte. »Wisst ihr, was ich heute dabeihabe? Gib mal meinen Rucksack, Trude.«
Ihre Freundin schnallte ihr den Rucksack ab, die Frau öffnete ihn und der goldverzierte Deckel eines Milchkännchens blitzte in der Sonne auf. »Hat meiner Mutter gehört, und davor deren Mutter und Großmutter. Wenn ihr es genau wissen wollt: Das Kännchen ist seit 1780 in unserer Familie. Meißener Porzellan. Eine Zuckerdose gehört auch noch dazu, aber die habe ich schon letzte Woch e …«
Ihre Stimme versagte. »Ist nur Besitz«, sagte Wim. »Ihr Leben ist mehr wert als ein Kännchen.«
Die Frau sah ihn überrascht an, dann lächelte sie. »Du hast Recht. Du hast vollkommen Recht. Wenn sie es nur zu schätzen wüssten, die Bauern. Wissen nichts von uns, aber meinen, sie könnten uns jetzt behandeln wie den letzten Dreck.«
»Die haben’s auch nicht leicht«, sagte die Frau, die Trude hieß. »Die Leute rennen ihnen die Tür ein. Kaum ist einer weg, steht der Nächste da.«
»Und wozu?«, erwiderte ihre Freundin bitter. »Spätestens nächsten Winter werden wir sowieso alle verhungern. Ganz Deutschland ist aus dem Osten versorgt worden, und was tun unsere Sieger? Geben unsere Landwirtschaft dem Russen! Die wollen uns loswerden, wenn nicht durch Bomben, dann eben durch Hunger. So sieht’s aus.«
Sie schnürte ihren Rucksack wieder zu; ihre Hände stachen wie mit Messern auf das arme Gepäckstück ein. Danach versank sie in mürrisches Grübeln.
»Ich möchte wissen, wohin die Bolle-Mädchen immer gehen«, rief ich Wim zu. »Sie scheinen eine Adresse zu haben, an der sie jedes Mal etwas bekomme n – ganz umsonst!«
»Man braucht ihnen vom Zug aus doch nur zu folgen.«
»Das ist es ja. Sie waren noch nie im selben Zug. Gehen ganz früh aus dem Haus, lassen sogar ihre halbe Stunde in der Küche sausen, aber am Bahnhof hat sie noch keiner gesehen.«
»Vielleicht fahren sie per Anhalter auf der Autobahn. Das kriegen wir schon raus!«, meinte Wim und grinste unternehmungslustig.
Ich drückte mich eng an den Zug, als wir über die Elbbrücke fuhren und die Pfeiler uns gefährlich nahe kamen. Ein Fehler! Etwas gab nach und rutschte
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