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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ausgreifenden, rudernden Seitwärtsbewegungen fort und hielt den Passanten seine Mütze entgegen.
    Dazwischen Angestellte, die zur Arbeit fuhren, und Hamstere r – noch mit leeren Koffern, Taschen und Rucksäcken oder schon beladen mit Kartoffelsäcken und auf dem Rückweg von längerer Fahrt. Viele fuhren auf offenen Güterzügen bis in die Eifel und boten sich als Tagelöhner an, wanderten über Landstraßen und schliefen in Scheunen und Ställen. Auf sämtlichen Treppen herrschte Gedränge, Geschimpf und Geschiebe und mit schlechtem Gewissen wurde mir bewusst, wie lange ich Ooti schon nicht mehr in diesen Hexenkessel begleitet hatte, um Onkel Jans Suchplakat in die Höhe zu halten.
    In Vorausahnung des langen Tages, der uns bevorstand, hatte ich Vorkehrungen getroffen. Um mein linkes Bein waren beide Verbände gewickelt, die ich besaß, der zweite außen um die Prothese und zusätzlich mit einem Strumpf verstärkt, den ich an den Zehen aufgeschnitten und übers Knie gezogen hatte. Dort hielten ihn zwei Wollfäden. Frau Wollank hatte mir diese ohne zu fragen von ihrem Knäuel abgeschnitten; ich hätte auch nicht zu erklären gewusst, wozu ich sie brauchte: um mein Bein an mir festzubinde n …
    Wüsste sie Bescheid, hätten sie mich zweifellos zu Hause gelassen. Die einzige Bevölkerungsgruppe, die an unserem Bahnsteig fehlte, waren die Krüppel, und in den nächsten anderthalb Stunden lernte ich die Bedeutung des Begriffs Wankelmut in allen Facetten kennen. Als der Zug endlich einrollte, hätte ich alles darum gegeben, die Zeit bis zu dem Tag zurückdrehen zu können, an dem Wim den Vorschlag gemacht hatte, mit seinen Nägeln und Schrauben hamstern zu fahren.
    »Wenn es irgendetwas gibt, was die Bauern brauchen, dann sind es Eisenwaren. Bestimmt bekommen wir einen besseren Kurs für Mehl und Kartoffeln als auf dem Schwarzmarkt!«
    Es hatte gut geklunge n – an jenem Tag, und selbst an diesem Morgen hatte ich noch gedacht: Du kannst es dir jederzeit anders überlegen. Nun jedoch war ich innerhalb von Sekunden eingekeilt zwischen schubsenden, vorwärtsschiebenden Leibern und mir blieb nichts anderes übrig als mitzuschieben, um nicht unter den einfahrenden Zug zu geraten oder niedergetrampelt zu werden.
    »Alice, hierher!« Wim und seine Mutter steuerten sofort die Trittbretter an, die sich über die gesamte Länge des Zuges zogen. »Worauf wartest du?«, schrie Wim.
    »Wieso denn draußen?«, schrie ich entsetzt zurück.
    Ohne Federlesens packte Wim mich am Arm und zog mich aufs Trittbrett.
    »Weil wir dann überall abspringen können und nicht kilometerweit von irgendeinem Bahnhof zurück zu den Höfen latschen müssen«, klärte er mich auf.
    Die Krücken zwischen mir und dem Zug eingekeilt, hielt ich mich am Fensterbrett fest, unter dem Wollanks einen Platz ergattert hatten. Durchs offene Fenster ließ sich direkt in den Zug blicken, in dem sich die Hamsterer nicht um Sitz-, sondern um Stehplätze stritten, weil sämtliche Bänke von der Reichsbahn in weiser Voraussicht schon entfernt worden waren. Poltern, Rufen und Lachen oberhalb unserer Köpfe verriet, dass auch das Zugdach geentert wurde.
    Mem wird mich umbringen!, war das Einzige, was ich zu denken imstande war. Und hatte Wim gerade etwas von Abspringen gesag t …? Von Abspringen während der Fahr t …?
    Irgendwo weiter vorn ertönte ein schriller Pfiff, mit ohrenbetäubendem Quietschen setzte sich der Zug in Bewegung und wir verschwanden in einer Dampfwolke. Als sie sich verzog, hatten wir den Bahnhof hinter uns gelassen und zuckelten durch die Ruinen der Altstadt; gleich darauf erkannte ich in der Ferne schon die Gerippe der riesigen Hafenkräne.
    Meine Angst ließ ein wenig nach. Auf dem Trittbrett wurde man durchgerüttelt, aber viel schneller, klärte mich Wim auf, würde der Zug nicht werden, da kein Lokführer Lust habe, »irgendein armes Schwein von den Schienen zu kratzen«. Die Reichsbahn war auf Hamsterfahrer ebenso eingestellt wie die meisten Fabriken, die den Arbeitern sogar freie Tage gaben, um Lebensmittel zu organisieren.
    »Jetzt heißt es zurücklehnen und genießen«, forderte Wim mich auf. »Die Sonne scheint, es sind mindestens fünfzehn Grad, und in weniger als einer Stunde stehen wir an den Kochtöpfen und Bratpfannen des Alten Landes.«
    Ich schloss die Augen, hielt das Gesicht in den Fahrtwind und versuchte mir einzureden, dass es eine Wendung zum Guten, ja, ein unfassbarer Fortschritt für jemanden wie mich war, unterwegs zu

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