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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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verrückt.
    Frau Wollank schob Wim und mich vor, als wir an der Tür ankamen, dabei waren wir beide längst zu alt, um Mitgefühl zu erregen. Die Vorhänge im Fenster gleich neben der Tür bewegten sich. Im oberen Teil meines Halses spürte ich bereits den Widerhall eines ungestümen Klopfens, mit dem mein Herz Anstalten machte, zurück zur Straße zu drängen.
    »Das Reden überlasst ihr besser mir«, meinte Wim.
    Ich hatte nichts dagegen! Die Tür flog auf und eine Frau pflanzte sich vor uns auf, die die Höhe und Breite einer Litfaßsäule hatt e – verglichen mit den spillerigen Hamburgern, an deren Anblick ich gewohnt war.
    »Nein, es ist Schluss, es ist jetzt wirklich Schluss!«, blaffte sie uns an, noch bevor Wim mehr als ein gewinnendes Lächeln gestartet hatte. »Glaubt ihr, wir sind hier im Schlaraffenland? Würste hängen von den Bäumen? Hühnchen fliegen uns in den Mund? Wisst ihr eigentlich, wie lang unser Arbeitstag ist? Nee, hab ich mir doch gedacht. Nur ankommen und die Hand aufhalten, das könnt ihr. Aber schuften, schuften sollen wir!«
    Ein wenig verspätet vor Schreck, dachte ich daran, meine Krücke zaghaft in die Tür zu schieben, aber die Frau kickte sie sofort weg. »Ihr habt Glück«, knurrte sie. »Ihr kriegt fünf Sekunden, bevor ich den Hund von der Leine lasse. Die Nächsten kriegen eine Ladung Schrot.«
    Drinnen schepperte etwas, als sie die Tür zuwarf. Ich sah Wim an, der immer noch sein Lächeln eingeschaltet hatte. »Fünf Sekunden«, schrie die Litfaßsäule hinter der Tür. »Fün f … vie r … dre i …«
    »Das traut sie sich nie«, bekam Wim endlich den Mund auf, aber länger vor der Tür zu verweilen machte unter diesen Umständen auch keinen rechten Sinn, also traten wir lieber den Rückzug an. Der Hund hing am äußersten Ende seiner Kette und machte Strangulationsgeräusche, als wir bei »null« an ihm vorbei waren.
    Wir standen auf der Straße. Fünfzig Meter hinter uns kamen bereits weitere Hamstere r – wahrscheinlich schon mit dem nächsten Zu g – und vor uns traten die beiden Frauen aus der nächsten Einfahrt, wandten sich kurz zu uns um und senkten den Daumen.
    Ich sah Frau Wollank an. Wollte sie nicht auch einmal etwas sagen?
    »Wir sind einfach zu viele«, sagte sie ernüchtert.
    »Ach was!«, meinte Wim. »Eisenwaren sind auf dem Land Mangelware. Die anderen mögen nur die Hand aufhalten, wir aber haben den Bauern etwas zu bieten.«
    »Das haben die auch!« Ich wies auf die kleine Gruppe, die nach uns den Hof mit dem wütenden Hund ansteuerte. Ein Junge trug einen Teppich über der Schulter, seine Mutter schleppte mit Müh und Not einen schweren Koffer.
    Aber Wim schüttelte den Kopf. »Was sollen die Bauern mit den ganzen Teppichen? Nein, was sie brauchen, ist etwas anderes, und wenn wir es nicht schon dabeihaben, werden wir es besorgen und wiederkommen!«
    Ich konnte nur staunen, woher er seine Zuversicht nahm. Streckte ihn ein Rückschlag nieder, rappelte er sich einfach wieder au f – mit nicht mehr als diesem merkwürdigen, mir schon bekannten Wahlspruch auf seiner Seite.
    »Wer Aussig überlebt hat, schafft alles!«, erinnerte er mich.
    »Hör endlich auf mit dem Quatsch, Wim!«, sagte seine Mutter zu meiner Überraschung. Er blickte sie an, als hätte sie ihn geschlagen.
    »Stimmt aber doch«, sagte er verstört.
    Sie sagte nichts.
    »Es war nicht nur reines Glück!«, beharrte Wim.
    »Lasst uns einfach weitergehen«, erwiderte Frau Wollank müde. »Jetzt sind wir nun einmal hier. Nicht, dass die d a …«, sie wies zurück auf die beiden mit dem Teppich, »uns auch noch überholen.«
    Ich humpelte zwischen ihnen wie ein Zaun. Kein Wort, kein Geräusch außer meinem eigenen »Tock«. Ich bekam größte Lust zu erklären, ich meinerseits sei immer noch zutiefst überzeugt, dass Wim alles schaffen konnte, was er wollte, hatte aber das unbestimmte Gefühl, die Stimmung dadurch womöglich noch mehr zu ruinieren.
    Gerade als ich mich zu fragen begann, was genau ich an Frau Wollank eigentlich glaubte zu mögen, bemerkte sie fröhlich: »Ich glaube, es wird Zeit, dass du Nora zu mir sagst, Alice.«
    »Na schön«, antwortete ich verblüfft.
    »Vielleicht solltet ihr auf den nächsten Hof allein gehen. Was meinst du? Zwei Kinder allein könnten größere Chancen haben.«
    »Sie meinen, zwei Kinder, davon eins auf Krücken«, übersetzte ich.
    »Aber Alice«, sagte Frau Wollank. »Erstens habe ich das nicht gemeint, und zweitens hast du es schon vergessen.

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