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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mich berührt hatte.
    Nach und nach trafen weitere Hamsterer ein, deren Taschen sich mal mehr, mal weniger beulten, und ließen sich erschöpft neben uns nieder. Ich schloss die Augen. Den glühenden Ring, der sich um mein Bein gelegt hatte, hatte ich ertragen können, solange wir unterwegs und beschäftigt gewesen waren; jetzt hatte ich das Gefühl, es keine Sekunde länger auszuhalten. Als der Zug sich endlich näherte, konnte ich kaum aufstehen, aber niemand dachte sich etwas dabei, da es anderen nach dem langen Tag auf der Straße auch nicht besser ging.
    Wieder fanden wir auf den Trittbrettern Platz, aber Nora und ich waren zu müde, uns auf der Fahrt mit Wim zu unterhalten.
    »Ihr müsst reden, sonst schlaft ihr ein und fallt vom Zug«, warnte er uns. »Und nicht vergessen: Wenn ein Zug entgegenkommt, macht euch dünne!«
    Ich hielt mich mit beiden Händen fest, die Schulter an den rüttelnden Zug gelehnt, und versuchte die Augen offen zu halten. Ich sah Pferdefuhrwerke nach Hause fahren, Frauen saubere Wäsche von Leinen nehmen, Kinder auf einem Deich spielen, den wir überquerten. Die Häuschen entlang des kleinen Flusses Este ähnelten denen auf Helgolan d – bescheidene Fischerhütten, in denen sich das Leben in der Wohnküche abspielte. Wahrscheinlich hätte ich mich sofort zurechtgefunden, wenn mich jemand hereingebeten hätte.
    Die Kinder starrten, lachten, und riefen herausfordernd: »Kartoffelkäfer!« Ein Mädchen hob eine Handvoll Dreck auf und warf sie nach uns, aber ohne zu treffen, vielleicht sogar ohne zu zielen.
    Niemand auf dem Zug sagte etwas. Kleine Schleppkähne lagen am Ufer oder wurden von Pferden gezogen, hinter dem Deich floss die Este gemächlich auf die Elbe zu.
    Kurz vor Hamburg kam, was alle fürchteten. Auf der Strecke stand ein einzelner Mann und gab der Lok ein Haltesignal, und während Bremsen quietschten, machten sich angespannte Kehlen in einem Aufstöhnen Luft, das hundertfach aus den offenen Fenstern drang. »Nein, bitte nicht, nicht heut e …!«
    Links und rechts von uns sah ich Leute von Trittbrettern, Puffern und selbst aus Fenstern springen, während gleichzeitig ein Dutzend Polizisten aus einer Feldscheune auf uns zustürmte. Einige setzten an, die Flüchtenden querfeldein zu jagen, gaben aber rasch auf und konzentrierten sich lieber auf uns Gesetzesbrecher im und am Zug.
    »Na großartig! Und mein Fahrplan?«, schrie der Lokführer ihnen entgegen.
    »Runter, Alice!«, fuhr Nora mich an, zog mich vom Trittbrett und begann mir hastig die Manteltaschen mit Kartoffeln vollzustopfen, dann die Hosentaschen, sogar den Schlüpfer! Auch Wim griff in unseren Rucksack, steckte Rüben in seine Taschen und versteckte das Säckchen Mehl hinter den Zugrädern. Um uns herum füllte sich das Gleisbett mit ängstlichen, schimpfenden, aus dem Zug getriebenen Menschen.
    »Öffnen! Das auch! Was ist in der Tasche?«
    Ich stand wie erstarrt, als Nora mir den Mantel wieder zuknöpfte und die Krücken links und rechts unter meine Arme drückte. Nicht nur, weil ich überall Kartoffeln verloren hätte, wenn ich mich bewegt hätte, sondern weil die Polizisten selbst alte Leute grob herumschubsten und anherrschten. Der Einzige, der protestierte, war unser Lokführer.
    »Schämt ihr euch nicht?«, brüllte er von seiner Lok. »Die haben doch alle Hunger!«
    »Und du kriegst ’ne Ordnungsstrafe!«, brüllte einer der Polizisten zurück.
    Große Säcke am Rande des Gleisbetts füllten sich mit Kartoffeln, Rüben und Speckscheiben, mit Mehltüten und Schmalztöpfen, Würsten, Schinken und Eingemachtem. Eine Frau hielt schreiend an einem Beutel fest. »Das war meine Armbanduhr, meine Armbanduhr!«, weinte sie, aber der Polizist fuhr sie an: »Mehl gehört zum Bäcker und sonst nirgendwohin!«
    Mir wurde schwindlig, noch bevor einer der Polizisten uns erreicht hatte, Rüben und Zwiebeln und die noch übrigen Kartoffel n – alles bis auf das angebrochene Bro t – wortlos aus Noras Rucksack nahm und in einem Jutesack verschwinden ließ. Wim tastete er ab, fand die Rüben in seinem Mantel und warf sie in den Sack, dann schaute er in die Schultasche, die über Wims Schulter hing, und griff hinein.
    »Das sind meine eigenen Nägel!«, rief Wim erschrocken und hielt fest.
    »Hättest du dir früher überlegen müssen«, sagte der Polizist. Sein Gesicht war krebsrot und glänzte von Schweiß.
    »Das dürfen Sie nicht! Die hab ich gefunden, die hab ich selbst bearbeitet!«
    Wim wand ihm die Nägel aus der

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