Unterland
Besinnung. Nicht Wim und ich hatten seine Mutter mitgenommen, sondern die beiden schleppten mich als beschwerliches Anhängsel mit sich herum! Ich war es, die anderen zur Last fiel. Wie hatte ich das nur vergessen können?
Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich voran, so gut ich konnte; gern hätte ich auf der Hälfte der Strecke eine Pause eingelegt, aber ich wagte nicht, darum zu bitten. Als wir endlich an der Landstraße ankamen, war ich schweißnass und den Tränen nah e – und dies nicht nur wegen der Blamage oder überhaupt wegen meines Beins, dessen Protest ja zu erwarten gewesen war. Der Grund waren meine Hände, auf die ich mich immer hatte verlassen können und die mich nun ebenfalls im Stich ließen. Als ich sie vom Griff der Krücken abnahm, dehnte und streckte, heulte ich beinahe vor Schmerz. Am rechten Handballen bildete sich zudem bereits eine große Blase.
Und das war leider noch nicht alles. Der Notstrumpf war verrutscht und hing als nutzloser Wulst unterhalb des Knies, und was da juckte und drückte, konnten nur die Wollfäden sein, die mich darauf aufmerksam machten, dass mein Bein anschwoll. Dies, nachdem wir keine zwei Kilometer gegangen waren! Zum ersten Mal konnte ich nachempfinden, dass Leute sich auf der Flucht aus dem Osten freiwillig in den Straßengraben gelegt hatten, um zu sterben.
»Wärst du nicht besser dran ohne deine Krücken?«, fragte Wim, während seine Mutter energisch vorausschritt, den anderen Hamsterern hinterher, von denen uns die Ersten bereits wieder entgegenkamen.
»Ach, jetzt sind wir ja auf der Straße«, erwiderte ich und musste mich räuspern, um meine zitternde Stimme anzuschieben. Denn Frau Wollank hatte ja Recht, Jammern nützte nichts, wenn es dafür zu spät war.
»Gib sie mir trotzdem! Dann vergisst du vielleicht, dass du sie brauchst.«
»Das wirkt nicht«, erwiderte ich aufrichtig. »Nicht bei meiner Art von Problem.«
»Sicher? Na dan n …«
Wim hob die Schultern. Ich war gerührt. Fast hoffte ich, er würde fragen: Was ist denn deine Art von Problem? Dann wäre ich es endlich losgeworden!
Vielleicht würde er soga r – die Erinnerung durchzuckte mich, als hätte ich eine heiße Herdplatte berühr t – wieder den Arm um mich legen, um mir zu helfen!
Aber würde er mich noch einmal mitnehmen, wenn er Bescheid wüsst e …? Plötzlich war mir der Gedanke ganz unerträglich, er könnte beim nächsten Mal ohne mich fahren. Verstohlen warf ich ihm einen neuerlichen Blick zu: seine vorwitzige Haartolle, die unternehmungslustige, leicht nach oben gebogene Nasenspitze. Noch am Morgen war er blass gewesen wie ich, jetzt schien die Aprilsonne bereits einen Hauch frischer Farbe auf seine Wangen zu zaubern.
Nein, beschloss ich, biss die Zähne zusammen und griff fest um meine Krücken. Er darf es jetzt noch nicht wissen. Alles geht, wenn es muss!
Platt getretene, wagenbreite Wege führten von der Landstraße alle paar Hundert Meter in ein anderes kleines Gehöft. Die Höfe sahen freundlich und gepflegt aus. Gestickte Vorhänge vor den Fenstern, mit Trockenblumen gefüllte Vasen.
»Kein Wunder, dass hier nur ein paar Leute abgesprungen sind«, sagten zwei Frauen, bei denen Frau Wollank stehen geblieben war. »Die wussten wohl schon Bescheid.«
Ich blickte in den Hof, auf den sie wies. An einer Laufkette kläffte ein schlecht gelaunter Hund, ein Auto ohne Reifen war auf ein paar Pflastersteinen aufgebockt.
»Hier braucht ihr’s gar nicht zu probieren! Die sagt, sie braucht ihre Kartoffelschalen für die Schweine!«
»Aber selbst so fett wie ein Schrank!«
»Der Teufel soll sie holen.«
Auch das fing ja gut an! Beklommen sah ich den Frauen nach, die im Weitergehen mit kräftigen Schritten auf die unschuldige Landstraße eintraten, als wollten sie noch den kleinsten Kiesel aus dem fluchbeladenen Hof hinter sich lassen.
»Alice«, bestimmte Frau Wollank unverzagt, »du stellst ganz schnell deine Krücke in die Tür, sobald jemand aufmacht.«
Ich nickte gehorsam, obwohl die Aufforderung mich schockierte. Was, wenn mir der Türöffner die Krücke wegnahm? Hatte daran auch mal jemand gedacht? An ein Paar Krücken oder orthopädische Schuhe zu kommen war fast so schwer wie an ein neues Bein!
Wir drückten uns an dem aufgebrachten Hund und dem Auto vorbei und das kleine Haus sah plötzlich alles andere als freundlich aus. Das war es also, wovor Mem sich so fürchtete. In der Nacht zum Hamstersamstag knirschte sie immer mit den Zähnen wie
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