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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Hand, der Polizist holte aus und gab ihm eine Ohrfeige. Das war an sich nichts Besonderes, das Austeilen von Ohrfeigen erlebte man in der Schule jeden Tag; besonders und schockierend allerdings war, dass Nora Wollank mit einem Schrei dazwischenging und den Polizisten zurückschlug!
    Wim blitzschnell hinter sich ziehend, reckte sie sich vor dem viel größeren Polizisten auf und funkelte ihn an; noch nie hatte ich etwas Wilderes, Beängstigenderes und gleichzeitig Herrlicheres gesehen als ihren Mut. »Meinen Jungen ohrfeigen Sie nicht!«
    Plötzlich kam Leben in die stumme Schar. Frauen umdrängten uns, knufften den Polizisten, rissen an seinem Arm. Hass und Wut brachen sich Bahn.
    »An den Kindern vergreifen, pfui! Lasst die Kinder in Ruhe!«
    »Diese Schweine! Lassen uns einfach verhungern!«
    »Unter Adolf Nazi hatten wir immer zu essen!«
    »Kennkarte«, sagte der Polizist mit gepresster Stimme zu Nora und versuchte sich die Frauen vom Leib zu halten.
    Nora griff in die Seitentasche ihres Mantels, zog das Papier heraus und hielt es ihm mit einem Blick der Verachtung hin. Der Polizist notierte etwas und gab die Karte zurück.
    »Das hat ein Nachspiel«, sagte er und spuckte auf den Boden. »Flüchtlingspack!«
    Dann ging er hastig weiter; er legte ein ganzes Stück zwischen sich und die wütenden Frauen, bevor er stehen blieb, um die Nächsten zu kontrollieren. Eine Frau berührte Noras Schulter. »Die Kleine hat er ganz vergessen!«, flüsterte sie lächelnd.
    Wim bückte sich rasch und rettete seinen Sack Meh l – keine Sekunde zu früh, denn ein Polizist kroch bereits herum und sammelte ein, was er unter dem Zug fand. Bevor wir zurück aufs Trittbrett kletterten, hob Nora die Kartoffeln auf, die aus meinen Hosenbeinen fielen.
    Die Polizisten fuhren auf der Lok mit zurück nach Hamburg und entluden im Hauptbahnhof die konfiszierten Lebensmittel. Zornige, verzweifelte Blicke trafen sie. Die meisten Hamsterer auf unserem Zug hatten leere Tasche n – nach einem ganzen Tag der Wanderung. Was immer sie an Wertsachen eingesetzt hatten, war verloren. Einige versuchten noch auf dem Bahnsteig, die Polizisten umzustimmen, aber die fuhren nur schweigend fort, Säcke abzuladen und in einen Raum neben den Bahnschaltern zu tragen.
    »Jetzt hast du’s bald geschafft, Alice«, munterte Nora mich auf der Hälfte der Treppe auf.
    Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mitzuhalten, aber es war zwecklos, mein Bein brannte wie Feuer, meine Hände und Arme konnten die Krücken nicht mehr halten.
    Mitten in der Halle blieb ich endlich stehen. »Sagt Henry Bescheid, der holt mich.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, kein Problem, Henry ist das schon gewohnt. Meine Krücken könnt ihr mitnehmen.«
    Nora beugte sich vor und gab mir einen Kuss. Erst als sie mit Wim in der Menge verschwunden war, kamen mir die Tränen.
    Und dann sah ich sie: Sandra und Brigitte Bolle. Und sie sahen mich und zuckten zurück, zurück in das Innere des Raumes neben den Schaltern. Kamen in der ganzen Stunde nicht heraus, in der ich auf Henry wartete. Ab und zu öffnete sich die Tür, hinter der die Hamstersäcke verschwunden waren, um einen schmalen Spalt und sie mussten mich beobachten, sahen mich zwischen Bettlern und Händlern auf einem Mauerstück sitzen, bis mein Bruder endlich kam, mir aufhalf und mich ohne ein Wort auf seinen Rücken lud.
    Ich wusste nicht, wie ich Bolles wieder in die Augen blicken sollte, nun da ich wusste, wo sie »hamsterten«. Ich wusste nur, dass ich, solange wir unter einem Dach lebten, mit niemandem darüber würde reden können außer mit Henry, bei dem alle Geheimnisse sicher waren.

9

    Eine Woche später wurde Nora in einem Schnellverfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu sechzig Tagen Haft verurteilt. Obwohl es ihr erstes Vergehen war, verhängte der Richter keine Geldstrafe, da er davon ausging, dass bei einer aus dem Sudetenland abgeschobenen, verwitweten Flüchtlingsfrau mit minderjährigem Sohn nichts zu holen war.
    Wim schäumte. »Ich hätte das Geld beschaffen können! Ich hätte es beschafft!«, rief er immer wieder, aber er war weder als Zeuge noch als Zuschauer zur Verhandlung zugelassen worden, obwohl es bei der Ohrfeige doch um ihn gegangen war.
    Alle im Haus, selbst die Wranitzky, waren schockiert von der Härte, mit der eine läppische Ohrfeige geahndet wurde. Wims Mutter war amtlich benachrichtigt worden, es läge eine Anzeige gegen sie vor und sie solle sich zur Aussage auf dem Polizeirevier

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