Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
aufstehen, das Hosenbein unterm Knie zunähen, die Krücken nehmen und völlig ohne Schmerzen aus dem Haus gehen. Kein Rutschen, kein Scheuern, kein Bluten.
    Sie stellte sich tatsächlich vor, ich liefe von nun an mit einem zugenähten Hosenbein herum. Ich liefe mit einem zugenähten Hosenbein herum und es ginge mir gut!
    »Dieses Gespräch«, sagte ich und drehte mich zur Wand, »führen wir zum etwa hundertfünfundzwanzigsten Mal.«
    Mem saß noch eine Minute schweigend neben mir, dann sagte sie: »Na gut«, und stand auf.
    Das war alles. Ob ich wollte oder nicht, ich war anschließend ein wenig besorgt um sie. Ging es ihr schlecht? Wurde sie krank? Ich musste mir eingestehen, dass ich mir selten Gedanken um meine Mutter machte. Sie schien mit Hamburg gut zurechtzukommen: Alles halb so schlimm , plötzlich wurde mir bewusst, wie sehr wir uns darauf verließen. Wenn Mem anfing zu schwächeln, konnten wir genauso gut den Notstand ausrufen.
    Am nächsten Nachmittag ging sie aus dem Haus, ohne zu sagen wohin, und kam mit Schwester Angela zurück. Mem wurde nicht krank, sie hatte bloß endlich akzeptiert, dass ich mich ohne Prothese nicht zeigen wollte.
    »Dass du wieder so gut gelaunt bis t …!«, staunte Wim an diesem verregneten Aprilmorgen und mein Optimismus schien auch ihm aufzuhelfen, denn er berichtete wesentlich fröhlicher: »Ich kann Lou jetzt jeden Tag am Fenster sehen. Sie haben sie nach vorne zur Straßenseite verlegt und Läuse hat sie auch nicht.«
    Dies schien jetzt seine größte Sorge zu sein: Seine Mutter könne sich wie im Lager Schöbritz Läuse einfangen und wieder geschoren werden.
    »Ach, sie sieht toll aus!«, erwiderte ich. »Pass auf, demnächst rennen ihr die Verehrer in Scharen hinterher und werden lästig. Du wirst dir noch wünschen, sie hätte eine Glatze!«
    Wim grinste. »Ich habe vier Bestellungen für Kochkisten. Das spricht sich herum, sag ich dir! Vielleicht schaffe ich es und der Richter wandelt die Haft doch noch in eine Geldstrafe um.«
    »Und woher nimmst du das Holz?«
    »Ich kann Regalbretter aus einer demontierten Fabrik bekommen. Die Arbeiter verscherbeln alles, was die Tommys nicht mitnehmen, und die sind nur an Maschinen interessiert. Das ist natürlich nicht ganz umsonst, aber einen kleinen Grundstock habe ich ja bereit s …«
    »Einen kleinen Grundstoc k …? Du bist reich, Wim!«
    Er winkte bescheiden ab, konnte seine Zufriedenheit aber nicht verhehlen. Wer sollte sie ihm übel nehmen? Jeder im Haus staunte über die zahlreichen Talente, die Wim unter Druck entwickelte, und dazu zählte auch seine beharrliche Art, Leute von Dingen zu überzeugen, die sie lieber nicht tun wollten. Er blieb so lange am Ball, bis einem entweder die Argumente ausgingen oder man merkte, dass man nie welche gehabt hatte.
    Auf ebendiese Weise hatte er geschafft, meine Mutter davon zu überzeugen, nur noch die Hälfte unserer Rauchermarken an Frau Kindler abzutreten.
    »Sie wissen, dass Sie es gar nicht müssten, Frau Sievers«, sagte er, »und Frau Kindler weiß es auch. Ich wette, sie rechnet schon lange damit, dass Sie nicht mehr mitmachen.«
    »Meint ihr wirklich, es lohnt sich, deswegen einen Krach zu riskieren?«, vergewisserte sich Mem, die den gleichen Vorschlag, als ich ihn machte, schlichtweg abgelehnt hatte. Aber zwei-, dreimal von Wim darauf angesprochen, bedurfte es plötzlich nur noch eines kollektiven Nickens, um sie mit dem nötigen Mut auszustatten.
    »Sie schaffen das, Frau Sievers!«, spornte Wim sie an. »Und am besten tun Sie es gleich, solange der arme Leo oben ist.«
    Worauf sich Mem tatsächlich erhob und die Treppe hinaufging! Ooti und ich hielten uns fast an den Händen, um ihr die Daumen zu drücken.
    Erst hörten die Dielen auf zu knacken, dann hörten wir längere Zeit nichts, bis endlich Frau Kindlers Antwort zu uns drang: ein lang gezogenes, scharfes »Soooo o …?«
    Ich konnte nicht anders, ich prustete los, Wim ebenso.
    »Seit wann sind es die Mieter, die die Miete festlegen?«, tönte Frau Kindler, und Mems darauffolgende, gedämpfte Argumente ließen sich an den Antworten ablesen, die ihr um die Ohren flogen: »Üüüblic h …? Noootstan d …? Alte Freeeuuundschaf t …?«
    Man brauchte nicht lange zuzuhören, bis einem das Lachen verging und unsere Hamburger Situation in ihrer ganzen demütigenden Tragweite wieder vor Augen stand. Als Mem zurück ins Zimmer kam, wirkte sie wie umschattet, obwohl sie sich durchgesetzt hatte.
    »Fünfzehn Zigaretten

Weitere Kostenlose Bücher