Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
so schnell wieder zum Wundscheuern kommt. Es gibt inzwischen«, fügte er strahlend hinzu, »nämlich auch verbesserte elastische Stützverbände!«
    »Und was ist mit der neuen Prothese, die wir beantragt haben?«, fand Mem ihre Sprache wieder.
    »Ich fürchte, Sie müssen sich anders behelfen, ich kann angesichts der Materialengpässe keine Prothese für ein Kind bewilligen, die in einem halben Jahr auch nicht mehr passt. Die zwei Zentimeter Größenausgleich zur letzten Anpassung schaffen wir durch orthopädische Schuhe.«
    »Aber wir warten seit sieben Monate n …!«
    »Haben Sie sich draußen umgesehen?«, fragte der Arzt nicht ohne Schärfe. »Da sind erst mal andere dran, Frau Sievers. Seien Sie froh, dass Ihre Tochter ein intaktes Kunstbein hat, mit dem wir noch etwas anfangen können. Ich kriege hier Mädchen und Jungen zu sehen, die seit einem Jahr auf Rollwägelchen sitzen!«
    Auf dem Weg zurück zur U-Bahn hatte ich eine dieser unerklärlichen, unbegründeten Visionen von Neubegin n – wie damals, als wir aus dem Stollen gekrochen waren und erstmals unser grauenvoll zerstörtes, nicht wiederzuerkennendes Oberland erblickt hatten. Anstatt zu heulen, hatte ich gedacht: Wir sind davongekommen!, und dies wieder und wieder, wie ein Riss in der Tonspur, während wir uns einen Zugang zu unserem halb eingestürzten Haus buddelten und drinnen als Erstes das wenige Geschirr, das nicht zerbrochen war, vom Boden auflasen und ordentlich in den Küchenschrank zurückräumten.
    Wir fegten Scherben und Staub zusammen, warfen alles hinaus auf den Schuttberg, unter dem unser Vorgarten la g – allem Anschein nach das Elternschlafzimmer, aber auch Teile von Häusern, die ein ganzes Stück weiter unten an der Straße gelegen hatte n –, und setzten uns an den Tisch. Mem schmierte Brote. Über Bombentrichter und Berge von Geröll kletterte Moortje, begrüßte uns wie von Sinne n … und saß danach wie jeden Tag neben mir am Tisch, als könnten wir einfach dort weitermachen, wo wir unterbrochen worden waren.
    Man weiß es insgeheim besser, hat aber dennoch das Gefühl, dass alles überstanden ist und nichts mehr passieren kann. Wahrscheinlich richtet es der Kopf so ein, weil er etwas anderes als diesen Gedanken überhaupt noch nicht produzieren kann.
    »Die Hauptsache ist doch«, sagte ich zu Mem, »ich kann wieder laufen.«
    »Willst du damit sagen, es tut nicht mehr weh?«, fragte Mem und ich log rasch: »Ja!«, denn ob etwas wehtat oder nicht, empfand ich im Augenblick als absolut zweitrangig gegenüber der Erleichterung, das Schlackerbein los zu sein. Die Schwester hatte den Stumpf mit einer neuen elastischen Bandage gewickelt, ziemlich fest, wie ich fand, und alles andere als angenehm, aber mit Sicherheit gut gegen die Aussicht auf überhängende Weichteillappen . Allein die Bezeichnung gab mir fast den Rest.
    Für die orthopädischen Schuhe, die sie mir bewilligten, hatten wir einen Bezugsschein und die Adressen von Schuhmachern in unserem Stadtteil bekommen. Dies bedeute allerdings nicht, schränkte die Schwester ein, dass der Schuhmacher tatsächlich auch Leder vorrätig habe. Wenn wir also Leder hätten, das wir nicht mehr brauchten, sei es nicht von Nachteil, dies dem Schuhmacher gleich mitzubringen, wenn wir ihn zum Maßnehmen aufsuchten.
    »Meine alten Schuhe kann Leni haben, die freut sich«, sagte ich direkt bevor mir auffiel, dass Mem weinte. »Was ist, was hast du denn?«, fragte ich bestürzt.
    Meine Mutter war alles andere als eine Heulsuse. Warum sie mitten auf der Straße, am helllichten Tag, zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt plötzlich damit anfangen musste, war mir ein Rätsel. Wo ich gerade wieder etwas Oberwasser hatt e …!
    »Jetzt hör doch mal auf, die Leute gucken schon!«, flüsterte ich.
    »Wir sind ja so belogen worden!«, schluchzte sie, stützte sich mit der rechten Hand an der Hauswand ab und verbarg mit der anderen ihr Gesicht, aber zwischen ihren Fingern sah ich so dicke Tropfen zu Boden fallen wie zu Beginn eines heftigen Regenschauers.
    Das beruhigte mich ein wenig: Regenschauer gehen schnell vorüber. So war es auch diesmal. Wir blieben eine kleine Weile stehen, Mem heulte, und die Leute auf der Straße guckten zwar flüchtig, aber ließen uns in Ruhe.
    »Nicht dass du jemandem davon erzählst«, sagte Mem, als sie fertig war, putzte die Nase, wischte sich das Gesicht und tupfte mit den Fingerspitzen unter ihre Augen in dem vergeblichen Versuch, ein Anschwellen zu vermeiden.

Weitere Kostenlose Bücher