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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Engländer könnten sich nach Herzenslust ausbreiten? Die meisten haben nur ein winziges Zimmer bei irgendeiner Familie. Selbst in unserem Haus wohnen drei Parteien, glaubt bloß nicht, da gäbe es noch Privatleben.«
    »Ich hab gehört, sie wollen ein ganzes Viertel für sich selber bauen«, sagte Ooti. »Hoffentlich zieht Captain Sullavan nicht mit, sonst ist es vorbei mit unserer Tommy-Tüte.«
    Gereizt fragte Mem: »Und das ist wohl das Einzige, woran du denkst?«
    »Ja«, antwortete Ooti schlicht. »Und ich denke, Alice hat Recht: Dies sind keine geeigneten Wohnverhältnisse für eine Familie! Vielleicht können wir versuchen, den Raum zu teilen, damit ihr wenigstens ein Eckchen für euch habt, wenn Reimer kommt. Ihr habt euch drei Jahre nicht gesehen, das macht es nicht einfacher. Als damals mein John aus dem Krieg ka m …«
    »Müssen wir das wirklich jetzt diskutieren?«, fiel Mem ihr ins Wort. »Vor den Kindern?«
    Über sein Heft gebeugt, sagte Henry: »Mem hat keine Lust, über Foor zu reden, Ooti.«
    So ist das mit meinem Bruder: Man vergisst, dass er da ist, und gibt ihm Gelegenheit, in aller Ruhe ins Schwarze zu zielen.
    Meiner Mutter schoss der Zorn in beide Wangen. »Keine Sorge!«, schnappte sie. »Für Reimer wird Platz sein, wenn er kommt!«
    Sprach’s, griff nach ihrem Handtäschchen und verließ das Zimmer. Wir sahen, wie sie das Täschchen mit trotzigem Schwung über die Schulter warf, als sie am Fenster vorbeiging.
    Henry und ich sahen uns an, und im Gesicht meines Bruders las ich dieselbe ratlose Überraschung, wie sie auch meins nicht besser hätte widerspiegeln können.
    »So geht es, Kinder, wenn man in beengten Wohnverhältnissen lebt.« Ooti fuhr mit betonter Gelassenheit fort, Wäsche zu falten. »Man hat nicht einmal Platz, sich drinnen zu ärgern.«
    »Ja, aber worüber denn?«, fragte ich verdattert.
    »Eure Mutter wartet seit drei Jahren auf euren Foor. Sie ist angespannt, das ist völlig normal. Herr Helmands Besuch hat alle im Haus wieder an ihre Männer denken lassen.« Ooti seufzte, sagte versonnen: »Arme Wilma«, und stand auf, um die Wäsche in unsere Sperrholzkisten zu sortieren. »Du kannst die Hand vom Kopf nehmen, Alice«, setzte sie hinzu, »es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge.«
    Am letzten Schultag vor den Sommerferien machte das Gerücht die Runde, einer von uns führe nicht zum Arbeiten aufs Land, sondern in Urlaub; allerdings war nicht herauszubekommen, wer das sein sollte, obwohl Graber jeden aufstehen ließ, dem er das Zeugnis überreichte, und ihn anbellte: »Ferien?« Die Antworten blieben alle gleich.
    »Ins Getreide, Herr Graber.«
    »In die Kirschen.«
    »Kühe hüten bei meinem Onkel.«
    »In die Kirschen, Herr Graber.«
    Zwischendurch grunzte Graber zustimmend und sagte: »Brav.« Oder: »Recht so.« Auf halber Strecke blieb er stehen und hielt einen Vortrag über die gemeinsame Verpflichtung der deutschen Jugend, die Wirtschaftskraft unseres Vaterlandes allen gegenläufigen Bemühungen der alliierten Rächerjustiz zum Trotze wieder herzustellen.
    Da er seine Tour auf der linken Seite begonnen hatte, arbeitete er sich langsam von hinten zurück zu uns nach vorn, was mir etwas Zeit gab, meine Antwort zu bedenken. Unter normalen Umständen wäre es ein Leichtes gewesen, ebenfalls von der Kirschen- und Getreideernte zu fabulieren, aber wer in aller Welt sollte es mir glauben? Mit Krücken kam man weder auf einen Baum noch ließ einen irgendwer auf ein Feld und zahlte auch noch dafür!
    Vielleicht sollte ich gar nichts sagen. Vielleicht erwartete Graber von mir nicht einmal, dass ich arbeitete. Der Blödmann brachte es fertig, mir mein Zeugnis als Einziger ohne irgendeine Frage zu überreichen! Dabei war ich es und nicht mein Bruder, die seit Monaten zum Unterhalt unserer Familie beitrug, Tag für Tag machte ich mich auf den Weg, und hatte Mem es nicht selbst gesagt: »Ich wüsste nicht, was wir ohne dich täten!«
    »Ferien, Tock-tock?«
    »Schwarzmarkt St . Pauli.«
    Die Klasse explodierte. »Ruhe!«, donnerte Graber und das Gelächter brach ab, als habe jemand den Stecker gezogen.
    Henry stand hastig auf, obwohl er noch gar nicht an der Reihe war, streckte die Hand aus und versuchte es mit: »Gemüseernte, Herr Graber«, worauf eine neuerliche Lachsalve aufbrandete und verebbte und mein Bruder sich verwirrt umblickte.
    Graber, der ihn nicht blamieren wollte, zog Henrys Zeugnis unter meinem hervor und gab es ihm, damit er sich setzen konnte. Rasch

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