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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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streckte auch ich die Hand aus, um mein Blatt entgegenzunehmen, aber zu spät, Graber hatte bereits auf den Zehenspitzen zu wippen begonnen.
    »Wie aus ein und der sel ben Fa mi lie ein bra ver deut scher Jun ge und ein Volks-schäd-ling hervorgehen können, ist von gro ßer Tra gik! Lies vor, was da steht!«
    Er knallte mein Zeugnis auf den Tisch und seinen knochigen Altmännerzeigefinger auf die Stelle mit der Betragensnote. Ich drehte mich zur Klasse um und las laut vor: »Alice ist renitent und unaufmerksam, integriert sich nicht in die Gemeinschaft und lässt es auf beklagenswerte Weise an Verständnis für das Deutschtum fehlen. Note mangelhaft.«
    Ich drehte mich wieder zu Graber. Seine Augen blitzten noch wütender, wohl weil ich ihn um das Vergnügen gebracht hatte, mich aufzufordern, das Ganze noch einmal lauter und an die Klasse gerichtet vorzulesen.
    »Ich hatte nicht erwartet, dem noch etwas hinzufügen zu müssen«, ätzte er. »Reicht es nicht, dass du ein Klotz am Bein der Gesellschaft bist? Nein, du musst diejenigen, die dich und deinesgleichen durchfüttern, auch noch um ihr täglich Brot betrügen! Pfui, pfui, pfui!«
    Es war mucksmäuschenstill geworden. Ich setzte mich und drehte das Blatt mit der beschriebenen Seite nach unten, Graber knallte Leni ihr Zeugnis wortlos hin und ging zurück zu seinem Pult, um uns als letzte Amtshandlung daran zu erinnern, dass die Schulspeisung während der Ferien weiterging, man sich aber anzumelden hatte, um die Anzahl der benötigten Portionen bestimmen zu können. »Unsere Besatzer«, ergänzte Graber, »scheinen davon auszugehen, dass andernfalls Reste bleiben.«
    Niemand lachte. Und dann war das Schuljahr vorbei und der Letzte, von dem ich mir die Ferien würde verderben lassen, war Graber mit der Eisenhand! Ich drückte mich mit den anderen zur Tür hinaus und brachte das Kunststück fertig, erhobenen Hauptes zwischen ihnen zu gehen, den einen oder anderen sogar mit der Schulter zu berühren und dennoch niemanden anzusehen, obwohl viele mich anstarrten und sich sogar eine kleine Gasse zur Treppe bildete.
    »He, Tock-tock!«
    Nun durchzuckte mich doch ein gewisser Schreck. Ich drehte mich zu dem Rufer um, einem Jungen aus Henrys achter Klasse, dessen Namen ich mir nicht gemerkt hatte, weil er ohnehin nicht mit uns redete. Aber der Junge grinste nur und hob die Hand. »Schöne Ferien!«, rief er.
    Plötzlich fiel mir sein Name wieder ei n – er hieß Ral f –, allerdings kam ich gar nicht dazu, ihm zu antworten, denn auf einmal schallte es von allen Seiten über den Schulhof.
    »Schöne Ferien, Tock-tock! Gute Geschäfte!«
    »Mach’s gut, Tock-toc k – bis September!«
    »Schöne Ferien und viel Erfolg!«
    Dass ich auf dem Nachhauseweg ein ziemlich dümmliches Grinsen tragen musste, war mir bewuss t – obwohl Leni strafend kundtat, sie zumindest habe meinen Auftritt als peinlich empfunden. Aber ich wurde es einfach nicht wieder los.
    »Wieso eigentlich St . Pauli?«, fragte Henry.
    Übermütig meinte ich: »Ach, ich musste doch wenigstens meine Spuren verwischen!«, und zu Leni, um Frieden zu stiften: »Wann beginnt sie denn, eure Gemüseernte?«
    »Du tust, als ginge der Garten dich gar nichts an!«, warf sie mir vor. »Kriegst da wohl nicht genug Aufmerksamkeit?«
    »Wim und ich haben das ganze Saatgut beschafft! Wenn wir nicht wären, könntest du allenfalls Unkraut jäten«, wehrte ich mich.
    »Das Saatgut«, erwiderte Leni verbissen, »hätte Wim auch ohne dich beschafft. Er schleppt dich mit, das ist alles. Du merkst es bloß nicht.«
    Ich blieb stehen. »Sag mal, spinnst du?«, rief ich.
    »Du hältst dich für die Größte, Alice Sievers, mit deinem Schwarzmarkt und deinem Wim, aber in Wirklichkeit hat er nur Mitleid mit dir!«, fauchte sie mich an.
    Ab und zu kommt es zwar vor, dass ich mein Bein für einen Augenblick vergesse, aber dass ich meine Krücken zur Seite werfe und mich prügle, ist äußerst selten. Ich kann mich, genau genommen, nur an dieses einzige Mal erinnern. Lange kann es nicht gedauert haben, da Henry dazwischenging, doch die Zeit reichte für ein paar ordentliche Kratzer, für abgerissene Rockknöpfe und aufgeschürfte Knie bei Leni und ein Dutzend blauer Flecken bei mir, weil Leni kniff wie ein Hummer. Wir rollten über den Bürgersteig und rissen uns an Kleidern und Haaren und eine Frauenstimme kreischte: »Sofort aufhören! Schämt ihr euch nicht?«
    Leni landete einen Treffer gegen Henrys Ohr, während er uns

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