Unterm Kirschbaum
holte sein Handy aus dem Rucksack und wählte die 110.
»Ja, guten Tag … Mario Furmaniak. Ich stehe hier am Oder-Havel-Kanal … Auf der Malzer Seite, gleich hinter der Schleuse … Und da ragt das Heck eines Autos aus dem Wasser … Sieht so aus, als ob da gerade einer reingefahren ist, reingefallen ist …«
*
Gunnar Schneeganß war gerade einmal 33 Jahre alt und hatte bereits eine sagenhafte Karriere hinter sich. Er kam aus einer total zerrütteten Familie. Sein Vater war Alkoholiker, andauernd arbeitslos und schlug, wenn ihn die große Wut überkam, auf alles ein, was in seiner Nähe war. Die Mutter hatte immer wieder in ein Frauenhaus flüchten müssen, mal mit ihm, mal ohne ihn, wenn ihn die Leute vom Jugendamt nicht gerade in ein Heim gesteckt hatten. Zudem hatte es Schneeganß in seinem Schöneberger Kiez als Deutscher ungemein schwer gehabt, zu groß war die Dominanz von Klassenkameraden nichtdeutscher Herkunft gewesen. Aber er hatte es geschafft, sich durchzuboxen, und war nach Abschluss der Hauptschule von der Polizei genommen worden, denn sein IQ lag weit über dem Durchschnitt, seine Allgemeinbildung war besser als die vieler Abiturienten, und sportlich war er auch. In allen seinen Stationen war er glänzend beurteilt worden, hatte sich von Besoldungsgruppe zu Besoldungsgruppe hochgearbeitet und sich durch seine Mitgliedschaft in der Polizeigewerkschaft und der SPD ein ansehnliches Netzwerk aufgebaut, sodass man ihn schließlich, nachdem er in der Abendschule das Abitur gemacht hatte, als Kommissarsanwärter zum Studium an die Fachhochschule schickte. Nach drei Jahren hatte er es geschafft, war nun Beamter des gehobenen Dienstes und zur Kripo gekommen.
Wie viele Aufsteiger neigte er dazu, sich für den Größten zu halten, für ein einzigartiges Exemplar der Gattung Homo sapiens, und bei jeder Handlung inszenierte er sich: immer schnoddrig, immer witzig, immer Alpha-Tier. Prächtig gestylt war er, gab ständig den Macho, wenn auch selbstironisch, und glaubte, ein legitimer Erbe des großen Ernst Gennat zu sein.
Gennat, 1880 in Plötzensee zur Welt gekommen, wo sein Vater Oberinspektor des Strafgefängnisses war, und 1939 in Berlin gestorben, galt als einer der erfolgreichsten Kriminalisten Deutschlands und war zur Legende geworden. Dazu hatte auch seine Körperfülle beigetragen, die zum großen Teil von seiner Liebe zu Buttercremetorte herrührte und ihm Spitznamen wie ›Der volle Ernst‹ oder ›Buddha der Kriminalisten‹ eingebracht hatte. War ein Täter nicht zu einem Geständnis zu bewegen, lud ihn Gennat zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte ein – und schon begann der Mann zu plaudern. Gennats größter Verdienst war der Aufbau einer zentralen Mordinspektion und die Einführung moderner Ermittlungsmethoden, und er arbeitete schon um 1930 als Profiler. Bald war er auch ein Medienstar und gab das Vorbild für den Kriminalkommissar Karl Lohmann in den Fritz-Lang-Filmen ›M – Eine Stadt sucht einen Mörder‹ und ›Das Testament des Dr. Mabuse‹ ab. Den Nazis stand er distanziert gegenüber. Seinem Sarg folgten 2.000 Berliner Kriminalbeamte.
An der Seite von Gunnar Schneeganß war meist Gisbert Hinz zu finden, ein früh ergrauter Kollege von 53 Jahren, der sehnlichst auf seine Pensionierung wartete. Um noch Kraft für die Zeit danach zu haben, versah er seinen Dienst nur im Schongang und nutzte jede Gelegenheit, sich krankschreiben zu lassen und zu Hause im Bett zu bleiben.
Die beiden saßen jetzt nebeneinander im Wagen und fuhren nach Oranienburg, um zu sehen, ob sie den Brandenburgern im Falle Schulz irgendwie helfen konnten. Ihre Führung, am Zusammenschluss der beiden Bundesländer interessiert, hatte es so gewollt, schließlich sei der vermisste Mann Berliner.
»Das Politische ist doch nur vordergründig«, sagte Schneeganß. »In Wirklichkeit traut man den Hinterwäldlern nicht zu, die Sache selbst aufzuklären.« Anhand der Autonummer war man schnell auf Siegfried Schulz gekommen, aber nun …?
»Aua!« Hinz presste seine rechte Hand auf die Gegend um den Bauchnabel. »Ich hab wieder so komische Stiche!«
»Das wird deine Gebärmutter sein«, sagte Schneeganß.
»Ich habe keine Gebärmutter.«
»Schade.«
Hinz sah ihn böse an. »Soll das heißen, dass ich schwul bin und mir eine wünschte?«
»Nein, aber dann hättest du noch ein Organ, wegen dem du dich krankschreiben lassen könntest. Auch der Brustkrebs fällt ja für dich flach.«
Hinz hatte es
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