Unterm Kirschbaum
gelernt, mit solchem Spott zu leben. Das war eben der Preis, den er für seine Strategie zu zahlen hatte. »Das Arbeitsleben ist ein Marathonlauf, mein Lieber, und da kannst du nicht immer so sprinten wie bei einem 100-Meter-Lauf.«
Schneeganß lachte. »Doch, ich kann.«
»Bis du mal ’n Herzinfarkt hast.«
»Den kriegst du bestimmt nicht – als einer, der immer nur auf Standby geschaltet ist.« Schneeganß, der am Steuer saß, ärgerte sich, dass es ewig dauerte, durch Oranienburg hindurchzukommen. »Gott, diese Ampelschaltungen hier!«
Mit einer Viertelstunde Verspätung erreichten sie den Oder-Havel-Kanal und die Stelle, an der sich das Brandenburger Team schon versammelt hatte und zusah, wie Schulz’ Porsche gerade von einem mächtigen Kran geborgen wurde. Er hing mit der Kühlerhaube nach unten am Haken, und durch die aufgesprungenen Türen lief eine Unmenge Wasser. Jedes Mal, wenn der Kranführer ruckte, kam ein neuer Schwall.
Die Brandenburger Kollegen kamen herbei, um die Berliner zu begrüßen. Man stellte sich vor. Der Leiter des Brandenburger Teams hieß Mittmann.
»Ah, der berühmte Wolfgang Mittmann!«, rief Gisbert Hinz, der zwar Westberliner war, aber alles gelesen hatte, was Wolfgang Mittmann über die spektakulärsten Fälle der Volkspolizei geschrieben hatte.
»Nein, Juri Mittmann und mit dem Wolfgang Mittmann weder verwandt noch verschwägert.«
»Gagarin lässt grüßen«, sagte Schneeganß.
Mittmann lachte. »In der Tat. Ich bin Ende 1961 auf die Welt gekommen, und meine Eltern wollten auch einmal etwas für die deutsch-sowjetische Freundschaft getan haben.«
Nach diesem fröhlichen Warm-up kamen sie auf Siegfried Schulz zu sprechen. Die Frage, ob man den schon gefunden habe, musste Schneeganß gar nicht stellen, denn in diesem Augenblick watschelten zwei Polizeitaucher die Böschung hoch und meldeten, in der Nähe des in den Kanal gestürzten Autos keine Leiche gefunden zu haben.
»Komisch«, sagte Mittmann. »Die Strömung ist so schwach, dass er unmöglich weit abgetrieben sein kann.«
Schneeganß wies auf ein Schubschiff, das gerade aus Richtung der Schleuse Lehnitz kam. »Vielleicht hat er sich da irgendwie an einem Schiff verhakt und ist inzwischen schon sonst wo.«
Hinz gähnte. Die frische Landluft hatte ihn noch müder gemacht, als er ohnehin schon war. »Steht denn fest, dass er überhaupt in seinem Porsche gesessen hat, als er …«
Mittmann wusste es nicht. »Wir sind erst mal davon ausgegangen, aber … Erste Erkundigungen bei euch in Berlin haben ergeben, dass Schulz durchaus jemand war, der … Er soll viele Geschäfte mit Russen, Litauern und Rumänen gemacht haben, und da …«
»Nun hetz mal nicht so gegen die sozialistischen Bruderländer!«, rief Schneeganß.
»Augenzeugen gibt es keine?«, fragte Hinz.
Mittmann zeigte auf einen jungen Mann, der gerade dabei war, seine Angelruten zusammenzusetzen. »Der hat den Porsche im Kanal als Erster entdeckt. Ein Meeresbiologe …«
»Wo ist denn hier das Meer?«, fragte Schneeganß. »Du meinst den Lehnitzsee …?«
»Quatsch, ich hab mich versprochen: Ein Biologe, der untersuchen will, was es hier im Kanal für Fische gibt.«
»Na, vielleicht ist das ein gutes Omen, und uns geht ein dicker Fisch ins Netz«, sagte Hinz.
»Und der Kanalbiologe hat keinen Menschen in der Nähe gesehen, der Schulz eventuell …?«, wollte Schneeganß wissen.
»Nein.«
Inzwischen war der Porsche abgesetzt worden, und die Kriminaltechniker konnten einen ersten Blick ins Innere werfen.
»Nichts!«, mussten sie feststellen. »Jedenfalls auf den ersten Blick nichts, was auf einen vorangegangenen Kampf hindeuten würde.«
»Haben wir also drei Möglichkeiten«, sagte Mittmann. »Erstens einen Unfall, das heißt, Schulz hat im Wagen gesessen und ist in den Kanal gestürzt. Zweitens, eine vorgetäuschte Straftat, das heißt, Schulz hat den Wagen selber in den Kanal gelenkt, nachdem er vorher herausgesprungen ist.«
»Und warum sollte er das getan haben?«, fragte Schneeganß.
»Na, um im wahrsten Sinne des Wortes unterzutauchen, warum auch immer.«
»Okay, und drittens?«
»Man hat ihn entführt und den Wagen anschließend im Kanal versenken wollen.«
Ein Boot der Wasserpolizei kam heran, und der Kapitän rief ihnen zu, sie hätten ein Stückchen weiter Richtung Finow einen Hut und einen Mantel gefunden.
»Haben sich da im Gestrüpp verfangen. Vielleicht haben sie Schulz gehört.«
Mittmann bedankte sich. Man hatte schon ein
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