Unterm Kirschbaum
werde mir einen Harem zulegen, einen Männerharem. Es gibt so viele arbeitslose Traummänner, die für so ein Leben dankbar wären. Wenn ich erst das Vermögen meines Schulz geerbt habe …« Sie freute sich diebisch über diese Wendung.
Diesmal hatte Klütz ein Ohr für solche Nuancen. »Vielleicht hat dein Schulz dich bereits enterbt – und zwar wegen mir.«
»… und alles seinem Neffen hier vermacht.« Sie blickte auf Wiederscheins Grundstück hinüber, wo einige Gäste auf der Terrasse der ›à la world-carte‹ saßen und tafelten, sonst aber niemand zu sehen war.
Klütz zeigte auf den ehemaligen Pferdestall. »Der Makler hat mir erzählt, dass sie da ihre Gäste unterbringen, wenn die es nicht mehr nach Hause schaffen. Dort wird dein Schulz seine letzte Nacht verbracht haben …«
Sie sah ihn staunend an. »Woher weißt du denn das? Meinst du nicht, dass er bei seinen Verwandten im Haus geschlafen hat? Die werden bestimmt ein Gästezimmer haben.«
»Keine Ahnung. Das musst du doch wissen.«
»Ich war nur einmal hier draußen, zur Einweihung des Restaurants, und da sind wir abends wieder nach Hause. Rainer hat uns nicht angeboten, bei ihm zu übernachten.«
»Schöne Verwandtschaft«, murmelte Klütz.
»Ach, weißt du …« Sandra Schulz steckte sich eine Zigarette an. »Ich war mal in einer WG, da hatten wir auch einen Ethnologen, und der hat immer von den Dobu erzählt, das ist ein Eingeborenenvolk auf Neuguinea, deren Kultur nur durch Hass und Bosheit zusammengehalten wird – und das funktioniert seit Jahrtausenden.«
»Deinem Schulz müssen ja die Ohren klingen«, sagte Klütz.
»Ja, er als die große Integrationsfigur. Schade, dass er nicht mehr unter uns ist.«
*
»Herr, unser Gott, ausgelöscht wurde hier ein Leben von fremder Hand, aber nicht von der Hand eines Feindes, sondern von der eines Kameraden, eines falschen Kameraden.«
Rainer Wiederschein hatte es sich nicht nehmen lassen, zur Trauerfeier für den Soldaten zu gehen, dessen sterbliche Überreste er unter seinem Kirschbaum entdeckt hatte und die von den LKA -Leuten später ausgegraben worden waren. Alles sprach dafür, dass der Mann, dessen Namen man anhand seiner Erkennungsmarke herausgefunden hatte, als Deserteur von einem Feldjäger oder einem SS-Mann erschossen und schnell vergraben worden war.
Pfarrer Eckel hatte Mühe mit dieser Predigt. »Herr, wir sind fassungslos, wir können nicht begreifen, was Menschen dazu treibt, einen anderen Menschen zu töten. Ende April 1945, Hitler hat seinen Krieg verloren, Millionen Menschen sind gestorben, sind im KZ ermordet worden, sind auf dem Schlachtfeld zerfetzt worden, in den Luftschutzkellern erstickt, auf der Flucht erfroren oder ertrunken, Berlin liegt in Trümmern … Da will dieser junge Mensch, den wir unterm Kirschbaum gefunden haben, das Einzige retten, was ihm noch geblieben ist: sein Leben. Und er flüchtet sich nach Frohnau, um hier unterzutauchen und zu warten, bis der Wahnsinn endlich vorüber ist – da spüren die Schergen des Führers ihn auf und erschießen ihn. Nach über 50 Jahren wird er gefunden … Und nur zu rasch geht uns in einer Stunde wie dieser der Satz über die Lippen: ›Wie kann Gott das zulassen?‹ Doch dabei vergessen wir nur zu schnell, dass nicht du, Herr, das Böse vollbringst, sondern wir selbst – wir Menschen sind es, die einander dieses Schreckliche antun.«
Wiederschein hatte das Gefühl, dass nicht der Pionier Gerhard Röder im Sarg vor ihm lag, sondern der Kaufmann Siegfried Schulz, und irgendwann alle Blicke in seine Richtung gehen würden und die ganze Kirche anfangen würde zu schreien: ›Dort sitzt sein Mörder!‹
»Herr, lass du uns gerade in Augenblicken wie diesen unsere eigene Schuld vor dir erkennen, damit wir nicht maßlos werden in unserem Zorn, damit nicht der Gedanke an Rache jeden anderen Gedanken in uns erstickt.«
Wiederschein zitterte am ganzen Körper und geriet geradezu in Panik, weil er fürchtete, die Gewalt über sich zu verlieren und seine Schuld ins Kirchenschiff hinauszuschreien.
Als aber die Glocken läuteten, war dieser Anfall bereits vorüber, und er lief in der Mitte des Trauerzuges mit zum Grab, um seine drei Hände Erde auf den hellen Kiefernsarg zu werfen.
Was er dabei murmelte, hörte niemand, denn die Worte waren an seinen Onkel gerichtet: »Es tut mir leid, und ich würde es gern ungeschehen machen …«
Die Reue war wie ein Fieber über ihn gekommen, und er hatte es nicht verhindern
Weitere Kostenlose Bücher