Unterm Kirschbaum
Leben, denn gegen ihren Willen hätte Rainer nicht handeln können. Wie sie es auch drehte und wendete: Sie war eine Mörderin. Die Erinnerungen jagten sie.
Doch wehe, wehe, wer verstohlen / Des Mordes schwere Tat vollbracht! / Wir heften uns an seine Sohlen, / Das furchtbare Geschlecht der Nacht.
Angela Wiederschein hatte Schillers ›Die Kraniche des Ibykus‹ in der Schule auswendig gelernt und konnte noch immer fast alle Strophen fehlerfrei aufsagen.
Sie hätte das alles eher bedenken sollen. So blieben ihr nur die Mediziner mit ihren Tabletten und Pfarrer Eckel mit seinen Versuchen, sie wiederaufzurichten, aber natürlich auch ihr Mann.
Sie konnte sich jetzt gute Ärzte leisten, denn nach Schulz’ Tod waren sie ja schuldenfrei und hatten Geld wie nie zuvor auf ihrem Konto. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten dem ›à la world-carte‹ zu viel Publicity verholfen, die Leute strömten nach Frohnau.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Wiederschein?«
»Ich kann abends nicht einschlafen, Herr Doktor, und wenn ich dann weit nach Mitternacht eingeschlafen bin, habe ich so schreckliche Träume, dass ich gleich wieder wach bin. Alles zieht mich runter. Essen mag ich auch nicht mehr, denn andauernd habe ich Magenschmerzen und Durchfall.«
»Das hört sich ja gar nicht so gut an«, sagte der Arzt und maß erst einmal den Blutdruck. »185 zu 101 … Das ist entschieden zu hoch, der Idealwert liegt bei 120 zu 80. Sind denn Ihre Lebensumstände so, dass Sie viel Stress und Ärger haben?«
»Nein, eigentlich nicht, aber seit dem Tod meines Sohnes damals …«
»Haben Sie schon einmal an eine Therapie gedacht?«
»Ja, aber …« Sie kam dem Arzt mit einer Reihe von Vorbehalten gegen alle Psychologen und Psychiater, denn sie konnte ihm ja schwerlich verraten, dass sie dort nicht hingehen würde, weil sie Angst hatte, sich als Mörderin zu entlarven.
Mit neuen Rezepten verließ sie die Praxis, und die Tabletten minderten in der Tat die körperlichen Beschwerden, die psychischen aber blieben nicht nur, sie wurden sogar schlimmer. Angela Wiederschein fuhr nur noch selten in die Stadt und kapselte sich immer weiter ab, und wenn sie das Haus verließ, dann ging sie entweder zum Arzt oder in die Kirche. Und halbe Tage lang tat sie nichts anderes, als in der Bibel zu lesen.
Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und mein Horn des Heils und mein Schutz! Siehe mein Elend und errette mich …
Begierig folgte sie jedem Wort, das von der Kanzel her laut wurde, und nach der Predigt ging sie zu dem guten, ihr immer gleichmäßig geneigt bleibenden Eckel hinüber, um, soweit es ging, ihm Herz und Seele auszuschütten und etwas von Befreiung oder Erlösung zu hören. Aber Seelsorge war nicht seine Stärke, noch weniger seine Passion, und wenn sie sich der Sünde geziehen und in Selbstanklage erschöpft hatte, nahm der Pfarrer nur lächelnd ihre Hand und sagte genau das, was sie nicht hören wollte.
»Liebe Frau Wiederschein, wir sind alle mal Sünder und handeln nicht so, dass es dem Ruhme Gottes entspricht. Sie aber haben eine Neigung, sich zu quälen, die ich zutiefst missbillige. Sich ewig anklagen, ist oft Dünkel und Eitelkeit, und wir dürfen nicht andauernd zerknirscht sein, weil wir unser Vorbild Jesus Christus nicht erreichen können. Kommen Sie, ich zeige Ihnen lieber, wie prächtig meine Goldfische im neuen Teich gedeihen. Sie sollten sich auch einen anlegen.«
Bei den Goldfischen angekommen, brachte sie vor, was ihr seit Tagen durch den Kopf ging.
»Schulz war doch Katholik, Herr Pfarrer, kann man für ihn keine Seelenmesse lesen lassen?«
Eckel stutzte. »Eine Seelenmesse wird meines Wissens entweder am Tag des Begräbnisses oder am Jahrestag des Todes eines Menschen gelesen – aber bei Schulz steht doch gar nicht fest, dass er tot ist, er kann sich ja auch abgesetzt haben, weil er Steuerschulden hat oder ihm irgendeine Mafia nach dem Leben trachtet. Da wäre ein ›Requiescat in pace‹ – ›möge er in Frieden ruhen‹ – nicht ganz angebracht.«
Sprach Angela Wiederschein mit ihrem Mann, so brauchte sie sich nicht wie bei den Ärzten und dem Pfarrer krampfhaft kontrollieren und darauf achten, dass ihr kein falsches Wort entschlüpfte oder gar das Geständnis, eine Mörderin zu sein.
Wiederschein ließ keinen Dialog vergehen, ohne den Mord an Schulz moralisch zu rechtfertigen.
»Wieder ein Schwein weniger auf der Welt!«, rief er dann aus. »Und
Weitere Kostenlose Bücher