Unterm Kreuz des Südens. Eine australische Familiensaga
von Ahnen bewacht wurden. Und der Weg zu dieser großen heiligen Stätte war noch weit, sehr, sehr weit.
Jeden Abend saßen alle um das Lagerfeuer, und für Neil war das immer die beste Gelegenheit, seine Fragen zu stellen, die ihm ruhig beantwortet wurden.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis er jeden mit seinem Namen ansprechen konnte.
Da war der Stammesälteste Googana, daneben saß Milunca, dann Ooka und Noura. Auf der anderen Seite saßen die Frauen, Benala, Minendie, Karaween und Apalie. Wie die Verwandtschaftsgrade waren, wusste er nicht.
„Warum gibt es in eurer Gruppe keine Kinder?“, wollte Neil eines Tages wissen.
„Du hast sehr aufmerksam beobachtet, Neil“, lobte ihn Googana. „Wir haben beschlossen, dass unser Stamm mit dem Letzten aufhört zu existieren, weil wir keine Zukunft für unsere Nachkommen sehen. Wenn die Weißen mitbekommen, dass wir schulfähige Kinder haben, werden diese uns weggenommen. Sie sollen auf den Schulen lesen und schreiben lernen. Aber damit verlernen sie auch das Leben und Überleben im Outback. Wenn sie eines Tages gebildet von der Schule kommen, kennen sie meist ihre Eltern oder noch schlimmer ihre Herkunft nicht mehr. Sie haben dann den Namen ihres Stammes einfach vergessen. Mit ihrer Bildung können sie aber nichts anfangen und verfallen dem Alkohol. Wir denken, dass wir so richtig handeln.“
Nachdenklich und bestätigend nickten alle. Nach einem schweigsamen Moment begannen sie Geschichten von ihren Ahnen zu erzählen.
Neil hörte dabei sehr interessiert zu.
Eines Abends sagte Googana, dass der Name ‚Aborigines’ nicht ihr richtiger Name sei.
„Du weißt, wir nennen uns Bundjalung , und die Ureinwohner, zu denen wir gehen, nennen sich Anangu . So hat jeder Stamm einen anderen Namen. Das Wort Aborigines stammt von den Weißen. Bei den Weißen gibt es eine Sprache, die lateinisch heißt. Ich habe aber noch keinen Weißen gehört, der sie spricht. Und in eben dieser Sprache heißt ‚ ab origine ’ – von Anfang an da –. Demnach wussten sie doch, dass wir von Anfang an da waren, und trotzdem haben sie uns fast ausgerottet. Es gibt nur noch wenige von uns. Weißt du Neil, nur weil wir kein Eigentum besitzen, weil wir keine Zäune haben, weil wir keine Landwirtschaft betreiben und weil wir keine Häuser bauen, betrachteten uns die Weißen nicht als Menschen. Vom roten Herz aus, zu dem wir wollen, befindet sich in nördlicher Richtung eine sehr, sehr tiefe Schlucht. Bis dorthin würden wir dann nochmals fünf Tage laufen. Die Weißen nennen sie Kings Canyon. Sie sagen, dass es die höchste und steilste Schlucht ist, die es in unserem Land gibt. Die Felswände fallen fast dreihundert Meter senkrecht ab.
Am oberen Rand dieser oder ähnlicher Schluchten trieben die Weißen nur eben so aus Freude, ganze Sippen hin. Den armen Menschen blieb nur noch ein Ausweg, nämlich hinunterzuspringen. So wurden ganze Stämme ausgerottet. Manche von uns wehrten sich und schlugen zurück und brachten auch einige Weiße um, aber für einen toten Weißen wurden mindestens zwanzig von uns getötet. Die Weißen verstanden und verstehen bis heute nicht, dass wir mit der Natur leben und nicht gegen die Natur. Wir achten die Natur, und wir achten die Tiere. Die Weißen vernichten alles, was ihnen in die Quere kommt. Ob es nun Pflanzen oder Tiere sind, interessiert sie nicht. Auch ob diese nun aussterben oder nicht, ist den meisten egal. Dabei kommen wir mit jedem ausgestorbenen Tier, mit jeder ausgestorbenen Pflanze dem Untergang der Welt einen Schritt näher. Die angeblich gebildeten Weißen wollen das einfach nicht begreifen. Und so, wie sie Pflanzen und Tiere missachten, missachten sie eben auch unsere Lebensweise. Das ist bis heute noch so. Es ist ein Wunder, Neil, dass du so viele Jahre bei deiner Mum leben durftest. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Farm so weit von den Städten entfernt ist. Denn überall, wo man ein Mischlingskind sieht, wird es seinen Eltern weggenommen und in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen erzogen. Und wie wir dir bereits erklärten, kennen nach Jahren die Eltern ihre Kinder nicht mehr und umgekehrt auch nicht. Das ist das Ziel, was die Weißen erreichen wollen. Sie begreifen einfach nicht, dass man nicht unbedingt lesen und schreiben beherrschen muss.
Wir geben unsere Erfahrungen durch Felsenmalereien an unsere Kinder weiter und durch die Geschichten der Traumzeit. Somit lernen auch unsere Jüngsten das, was die Alten auch können.
Wir
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