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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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tiefe Atemzüge hören, oder einer regte schlafend den Arm, daß die leinene Decke rauschte; wer noch wachte, hielt sich ganz ruhig. Hans konnte lange nicht einschlafen. Er horchte auf das Atmen seiner Nachbarn und vernahm nach einer Weile ein
    seltsam ängstliches Geräusch vom übernächsten Bette; dort lag einer und weinte, die Decke über den Kopf gezogen, und das leise, wie aus der Ferne hertönende Schluchzen regte Hans wunderlich auf. Er selber hatte kein Heimweh, doch tat es ihm um die stille kleine Kammer leid, die er zu Hause gehabt hatte; dazu kam das zage Grauen vor dem Ungewissen Neuen und vor den vielen Kameraden. Es war noch nicht Mitternacht, da wachte keiner mehr im Saal.
    Nebeneinander lagen die jungen Schläfer, die Wange ins gestreifte Kissen gedrückt, traurige und trotzige, fidele und zaghafte, vom selben süßen, festen Rasten und Vergessen übermannt.
    Über die alten spitzen Dächer, Türme, Erker, Fialen, Mauerzinnen und spitzbogigen Galerien stieg ein blasser halber Mond herauf; sein Licht lagerte sich an Gesimsen und Schwellen, floß über gotische Fenster und romanische Tore und zitterte bleichgolden in der großen, edlen Schale des Kreuzgangbrunnens.
    Ein paar gelbliche Streifen und Lichtflecke fielen auch durch die drei Fenster in den Schlaf saal der Stube Hellas und wohnten neben den Träumen der schlummernden Knaben so nachbarlich
    wie ehemals neben denen der Mönchsgeschlechter. Am folgenden Tage fand der feierliche
    Aufnahmeakt im Oratorium statt. Die Lehrer standen in Gehröcken da, der Ephorus hielt eine Ansprache, die Schüler saßen gedankenvoll gebückt in den Stühlen und versuchten zuweilen rückwärts nach ihren weiter hinten sitzenden Eltern zu schielen. Die Mütter schauten sinnend und lächelnd auf ihre Söhne, die Väter hielten sich aufrecht, folgten der Rede und sahen ernst und entschlossen aus. Stolze und löbliche Gefühle und schöne Hoffnungen schwellten ihre Brust, und kein einziger dachte daran, daß er heute sein Kind gegen einen Geldvorteil verkaufe. Zum Schluß wurde ein Schüler um den andern mit Namen aufgerufen, trat vor die Reihen und ward vom Ephorus mit einem Handschlag aufgenommen und verpflichtet und war hiermit, falls er sich wohl verhielt, bis an sein Lebensende staatlich versorgt und untergebracht. Daß sie das vielleicht nicht ganz umsonst haben könnten, darüber dachte keiner nach, sowenig als die Väter.
    Viel ernster und bewegender kam ihnen der Augenblick vor, da sie von Vater und Mutter
    Abschied nehmen mußten. Teils zu Fuß, teils im Postwagen, teils in allerlei in der Eile erwischten Fahrzeugen entschwanden diese dem Blick der zurückgelassenen Söhne, Tüchlein wehten noch lange durch die milde Septemberluft, schließlich nahm der Wald die Abreisenden auf, und die Söhne kehrten still und nachdenklich ins Kloster zurück.
    »So, jetzt sind die Herren Eltern abgereist«, sprach der Famulus.
    Nun begann man einander anzusehen und kennenzulernen, zunächst jede Stube unter sich. Man füllte das Tintenfaß mit Tinte, die Lampe mit Öl, ordnete Bücher und Hefte und versuchte im neuen Räume heimisch zu werden. Dabei schaute man einander neugierig an, begann ein
    Gespräch, fragte einander um Heimatort und bisherige Schule und erinnerte sich an das
    gemeinsam durchschwitzte Landexamen. Um einzelne Pulte bildeten sich plaudernde Gruppen, da und dort wagte sich ein helles Knabengelächter hervor, und am Abend waren die
    Stubengenossen schon viel besser miteinander bekannt als Schiffspassagiere am Ende einer Seereise. Unter den neun Kameraden, die mit Hans in der Stube Hellas wohnten, waren vier Charakterköpfe, der Rest gehörte mehr oder weniger dem guten Durchschnitt an. Da war
    zunächst Otto Hartner, ein Stuttgarter Professorensohn, begabt, ruhig, selbstsicher und im Benehmen tadellos. Er war breit und stattlich gewachsen und gut gekleidet und imponierte der Stube durch sein festes, tüchtiges Auftreten.
    Dann Karl Hamel, der Sohn eines kleinen Dorfschulzen aus der Alb. Um ihn kennenzulernen, brauchte es schon einige Zeit, denn er stak voll von Widersprüchen und rückte selten aus seinem scheinbaren Phlegma heraus. Dann war er leidenschaftlich, ausgelassen und gewalttätig, doch dauerte es nie lange, so kroch er in sich zurück, und man wußte dann nicht, war er ein stiller Beobachter oder nur ein Duckmäuser. Eine auffallende, obwohl weniger komplizierte Erscheinung war Hermann Heilner, ein Schwarzwälder aus gutem Hause. Man wußte schon

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