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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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nicht, daß sie Gutnacht sagte und hinter ihm das Türlein schloß. Er kam durch die Gassen nach Hause, er wußte nicht wie, als risse ein großer Sturm ihn mit oder als trüge ihn schaukelnd eine mächtige Flut. Er sah blasse Häuser links und rechts, in der Höhe darüber Bergrücken,
    Tannenspitzen, Nachtschwärze und große, ruhende Sterne. Er fühlte den Wind wehen, hörte den Fluß an den Brückenpfeilern hinströmen und sah im Wasser Gärten, blasse Häuser,
    Nachtschwärze, Laternen und Sterne gespiegelt. Auf der Brücke mußte er sich setzen; er war so müde und glaubte, nicht mehr nach Hause zu kommen. Er setzte sich auf die Brüstung, er
    horchte auf das Wasser, das an den Pfeilern rieb und am Wehr brauste und am Mühlenrechen orgelte. Seine Hände waren kalt, in Brust und Kehle arbeitete stockend und sich überstürzend das Blut, verfinsterte ihm die Augen und rann wieder in plötzlicher Welle zum Herzen, den Kopf voll Schwindel lassend.
    Er kam nach Hause, fand seine Stube, legte sich und schlief sogleich ein, im Traume von Tiefe zu Tiefe durch ungeheure Räume stürzend. Um Mitternacht erwachte er gepeinigt und erschöpft und lag bis an den Morgen zwischen Schlaf und Wachen, von einer verdürstenden Sehnsucht erfüllt, von unbeherrschten Kräften hin und her geworfen, bis in der ersten Frühe seine ganze Qual und Bedrängnis in ein langes Weinen ausbrach und er auf tränennassen Kissen nochmals einschlief.

Siebentes Kapitel
    Herr Giebenrath hantierte mit Würde und Geräusch an der Mostpresse, und Hans half mit. Von den Schusterskindern waren zwei der Einladung gefolgt, machten sich am Obst zu schaffen, führten gemeinsam ein kleines Probiergläschen und trugen ungeheure Stücke Schwarzbrot in der Faust. Aber Emma war nicht mitgekommen.
    Erst als der Vater mit dem Küfer für eine halbe Stunde weggegangen war, wagte Hans, nach ihr zu fragen. »Wo ist denn die Emma? Hat sie nicht kommen mögen?« Es dauerte eine Zeit, bis die Kleinen leere Mäuler hatten und reden konnten.
    »Sie ist ja fort«, sagten sie und nickten, »Fort, wohin fort?«
    »Heim.«
    »Abgereist? Mit der Eisenbahn?« Die Kinder nickten eifrig.
    »Wann denn?« »Heute morgen.«
    Die Kleinen langten wieder nach ihren Äpfeln. Hans drückte an der Presse herum, starrte in den Mostkübel und begann langsam zu begreifen. Der Vater kam wieder, man arbeitete und lachte, die Kinder bedankten sich und liefen fort, es wurde Abend, und man ging nach Hause.
    Nach dem Nachtessen saß Hans in seiner Stube allein. Es wurde zehn Uhr und elf Uhr, er machte kein Licht. Dann schlief er tief und lang. Als er später als sonst erwachte, hatte er nur das undeutliche Gefühl eines Unglücks und Verlustes, bis ihm Emma wieder einfiel. Sie war fort, ohne Gruß, ohne Abschied; sie hatte ohne Zweifel schon gewußt, wann sie reisen würde, als er den letzten Abend bei ihr war. Er erinnerte sich an ihr Lachen und an ihr Küssen und an ihr überlegenes Sichgeben. Sie hatte ihn gar nicht ernst genommen.
    Mit dem zornigen Schmerz darüber floß die Unruhe seiner erregten und ungestillten Liebeskräfte zu einer trüben Qual zusammen, die ihn vom Haus in den Garten, auf die Straße, in den Wald und wieder heim trieb.
    So erfuhr er, vielleicht zu früh, seinen Teil vom Geheimnis der Liebe, und es enthielt für ihn wenig Süßes und viel Bitteres. Tage voll fruchtloser Klagen, sehnlicher Erinnerungen, trostloser Grübeleien; Nächte, in denen Herzklopfen und Beklemmung ihn nicht schlafen ließen oder in schreckliche Träume stürzten. Träume, in welchen die unverstandenen Wallungen seines Blutes zu ungeheuerlichen ängstigenden Fabelbildern wurden, zu tödlich umschlingenden Armen, zu heißäugigen Phantasietieren, zu schwindelnden Abgründen, zu riesigen lodernden Augen.
    Aufwachend fand er sich allein, von der Einsamkeit der kühlen Herbstnächte umfangen, litt Sehnsuchtnach seinem Mädchen und preßte sich stöhnend in verweinte Kissen. Der Freitag, an dem er in die Mechanikerwerkstatt eintreten sollte, kam näher. Der Vater kaufte ihm einen blauen Leinenanzug und eine blaue, halbwollene Mütze, er probierte das Zeug an und kam sich in der Schlosseruniform ziemlich lächerlich vor. Wenn er am Schulhaus, an der Wohnung des
    Rektors oder des Rechenlehrers, an der Flaigschen Werkstatt oder am Stadtpfarrhaus
    vorüberkam, wurde ihm elend zumute. So viel Plage, Fleiß und Schweiß, so viel hingegebene kleine Freuden, so viel Stolz und Ehrgeiz und hoffnungsfrohes Träumen,

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