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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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Arbeitnehmer weder für das Alter noch für den Krankheitsfall Vorsorgen, weil dazu der Staat - dem man ja hohe Sozialbeiträge bezahlt hat - verpflichtet sei ... Diese Geisteshaltung, die sich fatalistisch auf den Patron Staat verlässt, muss aufgebrochen werden.« In Anlehnung an Peter Glotz sage ich: Der Umbau des Sozialstaates ist für dessen Fortbestand unausweichlich. Und er muss fortbestehen, weil davon auch die demokratische Substanz unseres Landes abhängt. Die Frage ist, wessen Handschrift das haben soll.
     

V - Politik im Korsett
    Die Bühne, auf der Politik stattfindet, hat sich dramatisch verändert. Viele Politiker vermuten sich noch auf den alten Brettern, mit vertrauter Kulisse, aber sie arbeiten mit längst überholten Texten. Dadurch ist ihnen ein nicht unerheblicher Teil des Publikums abhandengekommen.
    Tatsächlich haben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Bedingungen von Politik fundamental verändert. Sie ist vor allem deshalb ins Hintertreffen geraten, weil sie, anders als die Ökonomie und insbesondere das Finanzsystem, die sich im Zeichen der Globalisierung vollständig entgrenzt haben, überwiegend im nationalen Radius agiert. Aber auch auf dem heimischen Feld haben sich die Voraussetzungen stark verändert. Politik ist hier einem ständig wachsenden Druck ausgesetzt; die Erwartungen und Ansprüche der Bürger lassen sich angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten politischer Steuerung und Führung immer weniger erfüllen. Da es ein »Durchregieren« in unserem föderalen und pluralistischen System nicht geben kann, wird die Politik in eine Ecke gedrängt, in der sie zwangsläufig nur noch defensiv und immer unzulänglich wirkt. Politik soll gleichzeitig dem Anspruch an Effizienz und Partizipation, Stringenz und Offenheit gerecht werden, sie soll zugleich Reformkraft und Schutzmacht des Status quo sein: Dass dieser Spagat nicht gelingen kann, macht das Frustrationspotenzial gegenüber der Politik zwangsläufig noch größer.
    Politik unterliegt gesellschaftlichen Veränderungen, Prozessen, die sie selbst nicht bewirkt hat und allenfalls eingeschränkt beeinflussen kann, die sich aber Bahn brechen. Ein starker Zug zur Individualisierung und Pluralisierung in unserer Gesellschaft führt nicht nur dazu, dass sich klassische Wählermilieus auflösen. Auch den Rekrutierungs- und Mobilisierungsmöglichkeiten der Politik wirkt dieser Trend entgegen. Wenn sich diese Entwicklung weiter fortsetzt, spielt sich Politik eines Tages nur noch in der Arbeitsgemeinschaft 60 plus ab.
    Nachdem politische Großideen im Verlauf des 20. Jahrhunderts katastrophal gescheitert sind, abgedankt und selbst in homöopathischen Dosen nicht mehr verfangen haben, ist die Politik - zu Recht - vorsichtig geworden mit der Verkündigung neuer Ideologien. Aber es ist ihr bisher auch nicht gelungen, einen ideellen Rohstoff zu entwickeln, der ihr unter den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des 21. Jahrhunderts von neuem Bindungskraft verleihen könnte. Rückgriffe auf Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind keineswegs Missgriffe - im Gegenteil. Aber die alten Begriffe müssen neu übersetzt und auf die Höhe unserer Zeit gebracht werden.
    Während sich Politik kaum noch in großen Glaubenskathedralen oder Ideologien ausdrückt, folgt sie zunehmend einem Phänomen, das sie teils selbst herbeigeführt hat und ausgiebig bedient - der Mediendemokratie. Politik und Medien sind eine Symbiose eingegangen. Die lebt von der Selbstinszenierung der Politik und der medialen Inszenierung von Politik. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass Politik darüber die Erosion ihrer Gestaltungskraft zu kompensieren sucht. Dieses delikate Verhältnis von Politik und Medien ist mir ein eigenes Kapitel wert.
    Die politischen Parteien haben sich der Neuvermessung von Politik unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts bisher kaum oder unzureichend angenommen. Sie sind - mit Ausnahme ihrer jeweiligen Internetpräsentationen - nicht viel anders aufgestellt als im letzten Jahrhundert. Ihre Organisation, bis hinunter auf Ortsvereine oder Ortsverbände, die sich am Desinteresse ihrer eigenen Mitglieder aufreiben, ihre Personalauswahl, die sich an parteiinternen Korrektheiten orientiert, ihre gefilterte Wirklichkeitswahrnehmung, ihre Rituale und ihre Symbolik: das alles atmet den Geist weitgehender Selbstbezogenheit und korrespondiert fast nirgends mit dem beschleunigten Wandel der Außenwelt. Kein Wunder,

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