Unterm Strich
geht, ob es Finanzwissenschaftler und Steuerexperten sind, die jeden haushalts- und steuerpolitischen Vorschlag der Bundesregierung wie Schwachsinn erscheinen lassen, ob es Juraprofessoren sind, die im Schnellverfahren die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen bestätigen, ob es Biologen und Nahrungsmittelexperten sind, die uns in permanente Alarmstellung versetzen (warum unsere durchschnittliche Lebenserwartung bei all den schrecklichen Vergiftungen immer weiter gestiegen ist, bleibt mir ein Rätsel) - keine Demokratie mehr ohne Expertokratie. Und diese Expertokratie hat zahlreiche Vorteile auf ihrer Seite, vor allem hat sie ein höheres Ansehen als die Politik - selbst dann, wenn sie als Wahrsager mit der Glaskugel in der Hand auftritt. Expertokratie übernimmt keinerlei Verantwortung für die Folgen ihrer (Fehl-)Einschätzungen. Sie unterliegt keiner Beweislast bei der praktischen Umsetzung ihrer Empfehlungen. Und sie muss keine parlamentarischen Mehrheiten organisieren.
Diese Expertokratie, unter deren Flagge zunehmend auch journalistische Fachkommentatoren segeln, kann heute die Insolvenz einer Bank als marktwirtschaftlich notwendig vertreten - ohne sich morgen um die Folgen eines daraus resultierenden Zusammenbruchs kümmern zu müssen. Sie kann den Ausschluss Griechenlands aus dem Euroraum nahelegen oder auch einen Staatsbankrott der Griechen vertreten - und die damit verbundenen Erschütterungen der EU dem aus ihrer Sicht ohnehin unzureichenden Krisenmanagement der Regierung überlassen. Sie kann rigide Konsolidierungsprogramme empfehlen, die an Austerity-Programme grenzen - und muss nicht mit dem Megaphon auf der Rednertribüne bei einer Großdemonstration stehen. Sie kann die Abschaffung oder Senkung von Steuern befürworten - muss aber nicht am nächsten Tag mit dem Oberbürgermeister einer Ruhrmetropole seine maroden Schulen besichtigen oder mit dem Bundesfinanzminister in einem Defizitverfahren der EU Rede und Antwort stehen.
Viele der Experten und Gastkommentatoren mit wissenschaftlichem Hintergrund haben trotz mancher Widersprüche und eklatanter Irrtümer einen Nimbus der Glaubwürdigkeit und einen Vertrauensvorschuss, wie er keiner anderen Berufsgruppe entgegengebracht wird - am allerwenigsten den Politikern. Bei aller Frustration, unverständlich ist es mir nicht, dass Menschen, die nach Orientierung verlangen und bei der Politik ein Glaubwürdigkeitsdefizit verspüren, nach anderen »Instanzen« suchen. Zwar kochen diese »Instanzen« auch nur mit Wasser, aber es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass sie den Dampfkochtopf benutzen, bei dem es ordentlich zischt und brodelt.
Nicht nur die Politik, auch die Expertokratie versteht sich inzwischen auf Selbstinszenierungen. Das Ausmaß, in dem Experten, vom Frühstücksfernsehen bis in die Talkshows weit nach Mitternacht, einer verunsicherten Öffentlichkeit ihre Weisheiten auftischen, kann es mit der Präsenz der Politiker in den Medien gut und gern aufnehmen. Die teilweise schrillen Lieder, die diese »Experten« manchmal anstimmen, können einen Politiker schon in die Verzweiflung treiben.
Während meiner Amtszeit als Bundesfinanzminister war ich geradezu umzingelt von Männern - nach meiner Wahrnehmung spielt sich in diesen Expertenkreisen keine einzige Frau auf -, die die Nachfrage nach brauchbaren Informationen während der Finanzmarktkrise zu nutzen wussten, um ihre mediale Präsenz und somit ihren Marktwert und den ihres jeweiligen Instituts zu steigern. Kein Tag verging, an dem diese Professoren über Pressemitteilungen, Interviews, kolportierte Äußerungen nicht irgendwelche Ratschläge und Botschaften für die Finanzminister dieser Welt parat hatten. Leider handelte es sich nur selten um wirklich hilfreiche, weiterführende Ratschläge, die sich auch in den internationalen Abstimmungen platzieren ließen. Für die meisten dieser Expertenmeinungen galt, was Mark Twain für die Medizin auf die knappe Formel gebracht hat: »Wasser, mäßig genossen, ist unschädlich.«
Das Missverhältnis von öffentlicher Aufmerksamkeit und realem Erkenntnisgewinn hat einen ziemlich einfachen Grund. Die Ergebnisse seriöser Arbeit von unabhängigen und kritischen Wissenschaftlern - und auf die ist die Politik nach wie vor angewiesen - sind im Wettbewerb um die höchste mediale Aufmerksamkeit viel zu langweilig. Mit solidem Handwerk wären viele der »Experten« niemals in die Nähe einer Zeitungsmeldung gekommen. Das hätte nicht nur ihrer
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