Unterm Strich
Eitelkeit wehgetan, das hätte vor allem nicht dem Sendungsbewusstsein entsprochen, mit dem die meisten dieser Expertokraten ausgestattet sind. Dass sie mit ihrem Gerede immer wieder neue Ängste und Sorgen bei vielen Menschen auslösten, kümmerte sie offenbar nicht. Im Gegenteil: Wer Sorgen hat, will beraten werden, und wenn das Angebot genügend neue Sorgen schürt, wächst die Nachfrage.
Die Volatilität des Expertentums und der fliegende Wechsel von Grundüberzeugungen wurden selten deutlicher als in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Zeitpunkt: Oktober/November 2008. Lehman Brothers war gerade in die Insolvenz entlassen, der Wiederholungsfall mit dem Versicherungskonzern AIG zwei Tage später von der US-Regierung abgewendet, die Finanzkrise sprang auf die Realwirtschaft und den Arbeitsmarkt über. Der Ruf nach einem Konjunkturprogramm in bisher undenkbaren Dimensionen wurde immer lauter. Während ich mich als Bundesfinanzminister gegen eine Flut von zum Teil grotesken Vorschlägen stemmte (Konsumgutscheine!), bei denen lediglich Geld verbrannt worden wäre, nahm der Druck aus der Medienwelt - »Frankreich lenkt, Deutschland denkt« - und der Expertokratie massiv zu. Mir war klar, dass man mir irgendwann die Tür in den Bundeshaushalt eintreten würde. Also musste diese Tür ein wenig geöffnet werden, aber wie weit, das wollte ich selbst bestimmen. Das Ergebnis war das Konjunkturprogramm, das wir am 5. Januar 2009 im Koalitionsausschuss mit einem Volumen von 50 Milliarden Euro verabredeten und mit dem unter anderem die Kurzarbeiterregelung, das kommunale Investitionsprogramm, die Umweltprämie für die Leitindustrie des Automobilsektors und gewisse Steuererleichterungen auf den Weg gebracht wurden.
Ich erinnere mich gut an die erste Aufstellung der wissenschaftlichen Expertise. Dieselben ökonomischen Fachleute, die einen keynesianischen Stimulus bis dahin vehement abgelehnt hatten und Eingriffe des Staates ohnehin für Teufelszeug hielten, waren plötzlich für ein saftiges staatliches Konjunkturprogramm. Einige traten sogar für eine zeitweise Verstaatlichung von Banken und rigide Finanzmarktregulierungen ein, Instrumente, die zuvor nie und nimmer in ihrem Baukasten zu finden waren. Auf die Frage eines Journalisten, wie sich denn dieser überraschende Sinneswandel erklären lasse, antwortete ein Professor aus München, dies sei auf »eine falsche öffentliche Wahrnehmung« zurückzuführen. Ich vermute, der Imagewechsel hatte etwas mit dem Imageverlust des monetaristisch-neoliberalen Verständnisses von Ökonomie zu tun. Denn als dieses Verständnis noch »mega-in« war, hatte selbiger Professor ordentlich gegen »Kapitalverkehrskontrollen und weitere dirigistische Eingriffe in die Kapitalmärkte« gewettert, denn die würden »die Funktionsweise der westlichen Wirtschaftsordnung unterminieren«. Aber das war seine Sicht im Januar 2005 - lange vor der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Die Wirtschaftsredaktionen der seriösen Zeitungen und Nachrichtenmagazine waren im Herbst 2008 fast geschlossen auf dem Highway eines großdimensionierten Konjunkturprogramms. Bis Weihnachten 2008 sah sich die Bundesregierung einem medialen Trommelfeuer ausgesetzt, endlich anderen Ländern nachzueifern. Im Nachhinein würde ich Kritik am Timing der deutschen Initiative zur Abfederung der Rezession akzeptieren; wahrscheinlich war der Januar/Februar 2009 für das zweite größere Konjunkturprogramm vier bis sechs Wochen zu spät. Über die Vorgehensweise aber lasse ich nicht mit mir streiten. Es war richtig, nicht allen Forderungen nach Art und Höhe eines Konjunkturprogramms sofort nachgegeben und auf europäischer Ebene nicht einen Blankoscheck für die EU-Kommission ausgestellt, sondern einen Rahmen verabredet zu haben, der national ausgefüllt wurde. Einer meiner größten Kritiker war der amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman. Der hatte zwar noch nie ein einziges Wort mit mir gewechselt, wusste aber offenbar ganz genau, wie beschränkt ich dachte. Auf meine schriftliche Einladung, mit mir in Deutschland ein zu veröffentlichendes Streitgespräch zu führen, hat er nie geantwortet.
Über Weihnachten muss es im Schein der Tannenbaumkerzen zu einer Erleuchtung der Experten und Wirtschaftsredakteure gekommen sein, die vor den Feiertagen in den höchsten Tönen von einem Konjunkturprogramm geschwärmt und der Bundesregierung Attentismus vorgeworfen hatten. Ihnen wurde - welche Überraschung! - offenbar bewusst,
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