Unterm Strich
dass ein solches Programm kreditfinanziert werden musste, also auf eine knackige Erhöhung der Staatsverschuldung hinauslief. Dementsprechend wechselte die Expertise von Wissenschaft und Medien nach Rückkehr aus dem Weihnachtsurlaub ihr Thema und warnte jetzt vor einer drohenden öffentlichen Rekordverschuldung. Und dort verharrt sie bis heute - nicht ganz zu Unrecht.
Die Expertokratie steht im Ruf der Objektivität - anders als die Politik. Tatsächlich ändert sie ihre Meinungen je nach Themenkonjunktur und Stimmungstrends. Sachlich fundierte und wertneutrale Grundanschauungen mag es geben, aber gerade in den Wirtschafts- und Finanzwissenschaften prägen nicht selten ordnungspolitische Wertvorstellungen und politische Präferenzen das Urteil. Über die Prognosefähigkeit der diversen Schätzerkreise will ich nicht richten; es sind zu viele Kugeln im Spiel, als dass man jemandem Vorwürfe machen könnte, wenn er danebenliegt. Aber gerade deshalb sollten sich Experten mit ihren Prognosen auch nicht in Pose werfen und ihre Schätzungen als faktische Gewissheiten ausrufen. Die Politik ihrerseits sollte aus solchen Prognosen keine Fundamente gießen, was sie insbesondere dann gern tut, wenn die prognostizierten Wachstumsraten einmal höher ausfallen als gedacht.
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass eine Zunahme des Expertentums auch auf dem Innenhof der Politik zu beobachten ist. Die Politik entmachtet sich selbst, indem Regierung und Parlament der Expertokratie immer mehr Raum überlassen. Peter Silier befürchtet, dass sich dieser Trend mit wachsendem Krisenbewusstsein verschärfen könnte, weil der Zeitfaktor die demokratischen Verfahren unter enormen Druck setze und das Parlament so in eine Statistenrolle gedrängt werde. Ich kann nur bestätigen, dass es diese Tendenz gibt - und bin doch ratlos, wie unter dem Zeitdruck eines Krisenmanagements und insbesondere mit Blick auf die pünktliche Umsetzung internationaler Verabredungen eine praktikable Alternative aussehen könnte.
Mit der schleichenden Suspendierung des Parlaments als dem legitimierten Ort, an dem über die Kernfragen der Gesellschaft beraten und entschieden wird, und der gleichzeitigen Delegation dieser Fragen an Kommissionen und Beiräte wird ein grundsätzliches Problem unserer Demokratie berührt. Wenn die Legislative den ihr zustehenden Raum zurückgewinnen will, dann wird sie ihre Sachverständigenkapazitäten erweitern, ihre Verfahrensabläufe effektiver gestalten und sich auf die zentralen Fragen der Gesellschaft konzentrieren müssen. Bisher verliert sie viel Zeit, indem sie ihre Tagesordnung überfrachtet, nachrangige Ordnungsentwürfe mit einem parlamentarischen Zustimmungsvorbehalt versieht und Tonnen von Entschließungsanträgen produziert, die über die Mauern des Reichstagsgebäudes hinaus niemanden zu interessieren vermögen.
Festzuhalten ist: Es hat sich eine Kaste von Experten herausgebildet, die demokratisch legitimierte Institutionen und Gremien verdrängt. Diese werden sich unter den Bedingungen einer hochkomplexen Wissensgesellschaft, die sich in einem massiven ökonomisch-gesellschaftlichen Wandel befindet, mehr denn je externen Sachverstands versichern müssen. Aber die Schlüsselfrage lautet: Wer ist dabei Koch, und wer ist Kellner?
Experten stehen weder in der Pflicht, nachzuweisen, dass ihre Vorschläge umsetzbar sind, noch tragen sie Verantwortung für die Folgen ihrer Empfehlungen. Sie können am Reißbrett Ideallösungen entwerfen und Experimente im Maßstab ganzer Nationalökonomien durchführen, ohne die Risiken ihrer Szenarien abwägen zu müssen. Die Politik, die sich oft genug im Gestrüpp der konkreten Verhältnisse verheddert, steht im direkten Vergleich mit den Priestern des großen Fachwissens meist ziemlich dämlich da. Und falls sich die Kaste der Experten ausnahmsweise einmal irrt, stehen ihr genug Hintertürchen offen, sich zu exkulpieren. Für ihre Ausgabe vom 10. August 2008 befragte die Welt am Sonntag unter anderem vier Wirtschaftswissenschaftler von den Instituten HWWI, ifo, DIW und IfW nach der Wahrscheinlichkeit einer Rezession in Deutschland. Ihre Antworten lagen im Bereich von 5 bis 20 Prozent. Der Einbruch 2009 betrug minus 5 Prozent. »Ein Experte ist ein Mann, der hinterher genau sagen kann, warum seine Prognose nicht gestimmt hat«, spottete Winston Churchill einmal.
Parteiendemokratie in Deutschland
Anlässe und Vorwände für das Missvergnügen der Bürger an Politik finden sich
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