Unterm Strich
weniger Gezänk und mehr Konsens, weniger Reibungsverluste und mehr Effizienz, weniger Staat und mehr Freiheit, weniger Palaver und mehr Orientierung gäbe, ist entschiedener Widerspruch anzumelden. Diese Kritik ähnelt fatal der Kritik der extremen Parteien am Parlamentarismus der Weimarer Republik, die in eine Verhöhnung der »Systemzeit« und die Etablierung einer Diktatur mündete.
Im Übrigen drängt sich die Frage auf, die mein früherer Kabinettskollege als Innenminister in Schleswig-Holstein, Hans-Peter Bull, in seinem Buch Absage an den Staat? schon 2005 gestellt hat: Was wäre, wenn es keine Parteien gäbe? Glaubt irgendjemand, der im Umfeld der Politik Aufmerksamkeit erheischen will und sich deshalb aufgerufen fühlt, Ressentiments gegen die unfähigen und selbstsüchtigen Parteien zu bedienen, dass andere Gruppen oder Einrichtungen - Bull nennt Verbände und Kammern, Gewerkschaften, Konzerne und Unternehmen, Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbände, Stiftungen, Vereine und Bürgerinitiativen - die Rolle der Parteien bei der politischen Verständigung und demokratischen Willensbildung in unserer Gesellschaft übernehmen könnten? Würde die Republik darüber »regierbarer«? Würde dem Gemeinwohl unter dem Einfluss solcher »Korporationen« wirklich mehr Rechnung getragen? Würde nicht Partikularinteressen ein (noch) größerer Raum geöffnet? Und würden sich am Ende nicht Interessengruppen und Blöcke herausbilden, die wiederum den Charakter von Parteien hätten?
Vor allem aber: Wer soll politische Entscheidungen legitimieren? Telefonumfragen? Unterschriftenaktionen? Die Talkshows? Über dieser Frage wird deutlich, dass die Parteienkritiker offenbar nicht mehr formulieren als ein allgemeines Unbehagen und nicht einmal die Spur einer Alternative zu bieten haben. Sie reiten auf einer diffusen Stimmung gegen die Parteien.
In einem verspäteten demokratischen Erziehungsakt sind wir in den Jahren nach dem Krieg aus der umnebelten und gefühlsseligen »Volksgemeinschaft« herausgeführt worden. Die Diktatur bedurfte keiner Ausgleichsmechanismen. Die offene Gesellschaft hingegen, in die wir erfolgreich gelenkt wurden, stützt sich auf demokratisch geregelte Verfahren der politischen Willensbildung und des Interessenausgleichs. Die Repräsentanten der vielfältigen Meinungen und Positionen in einer solchen Gesellschaft sind organisierte Parteien, die sich im Wettbewerb um Mehrheiten befinden und am Ende für jeweils eine Legislaturperiode die parlamentarischen Akteure stellen.
Das Parteienwesen ist nicht obsolet. Repräsentative und funktionsfähige Parteien sind in einer parlamentarischen Demokratie unverzichtbar. Ohne sie gibt es auch kein Lauf band, auf dem sich Politiker bewähren können, um später Mandate zu übernehmen und in Ämter aufzusteigen. Gerade in Zeiten des Lobbyismus und des Verbandswesens bieten die Parteien noch am ehesten Gewähr dafür, dass Gemeinwohlinteressen nicht untergepflügt werden und das Gespräch zwischen Gesellschaft und politischen Institutionen nicht abreißt. Damit das so bleibt, werden sich die Parteien allerdings strukturell und kulturell ändern müssen: Sie müssen sich gegenüber Nichtmitgliedern öffnen, in einen stärkeren Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Engagements treten, über Mitgliederbefragungen und Mitsprachemöglichkeiten von Nichtmitgliedern mehr direkte Demokratie einführen, neue Kommunikationsplattformen und Veranstaltungsformate nutzen und schließlich ebenso glaubwürdige wie kompetente Kandidaten präsentieren.
Die strukturelle und kulturelle Neuausrichtung der Parteien beginnt mit einer grundsätzlichen Frage: Wer und wo genau ist das Zentrum der politischen Machtausübung? Artikel 21 Abs. 1 des Grundgesetzes sagt: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« Eine bloße Mitwirkung - das deckt sich offenbar nicht mit dem Bild, das in den Parteizentralen und auf manchen Parteikonferenzen vorherrscht. Wenn man dann auch noch Artikel 38 Abs. 1 des Grundgesetzes heranzieht, dann wird die Diskrepanz zwischen dem, was die Parteien sich anmaßen, und dem, was die Verfassung ihnen einräumt, vollends offenbar. Die Parlamentarier, heißt es dort, »sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen«.
Die Literatur über diese beiden Artikel des Grundgesetzes und die dazugehörige Verfassungswirklichkeit bemisst sich wahrscheinlich nach
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