Unterm Strich
Festmetern. Ohne dass ich eines dieser Bücher gelesen hätte, scheint mir die Schlussfolgerung klar: Die Parteien können der Verdrossenheit am übermächtigen Parteienstaat nur in einem Akt der Selbstbeschränkung entgegenwirken, indem sie das Parlament als den zentralen Ort des politischen Geschehens anerkennen und seine Verantwortung stärken. Es geht nicht darum, ob der Einfluss der Parteien auf die Institutionen und Organisationen des öffentlichen Lebens tatsächlich so übermächtig ist, wie auf Knopfdruck behauptet wird (Zweifel sind erlaubt). Es reicht die gefühlte öffentliche Wahrnehmung, die sich nachdrücklich artikuliert.
Nicht das Willy-Brandt-Haus als Parteizentrale der SPD oder das Konrad-Adenauer-Haus als Parteizentrale der CDU sind die genuinen Orte der politischen Willensbildung, sondern die Fraktionen des Deutschen Bundestages. Dementsprechend sind die Abgeordneten auch nicht als Entsandte oder Beauftragte der Parteien zu verstehen, die auf die Parolen der Parteizentrale verpflichtet sind. Wenn die Fraktionen stärker im Fokus stünden und größeres Gewicht gegenüber den jeweiligen Parteiapparaten erhielten, könnte dies das Parlament stärken und ihm ein neues politisches Spannungsmoment in der öffentlichen Wahrnehmung verschaffen. Das würde erst recht gelten, wenn es gelegentlich zu ergebnisoffenen Debatten und Abstimmungen käme, in denen die Abgeordneten ihren eigenen Einsichten und Bewertungen folgten.
Natürlich bin ich nicht naiv genug, die Einwände gegen eine solche Entwicklung zu übersehen. Machtausübung und Einflussnahme setzen die Organisation von Mehrheiten bei Abstimmungen voraus. Geschlossenheit ist mehr als eine politische Zierde. Gleicht eine Partei oder eine parlamentarische Fraktion einem vielstimmigen Chor, folgt in Form von Pressekommentaren und schlechten Umfrageergebnissen die Strafe auf dem Fuß. Dennoch beschäftigt mich die Frage, ob aus einer angeblichen Schwäche nicht eine Stärke, aus einer Not nicht eine Tugend gemacht werden könnte. Die Souveränität, Partei- und Fraktionszwänge gelegentlich zu suspendieren und sich als Plattform für sachliche Auseinandersetzungen zu präsentieren, auf gestanzte Parteiweisheiten und Abgrenzungsrituale zu verzichten und die Lautstärke als Ausweis des besseren Arguments zu drosseln - diese Souveränität könnte Anerkennung finden und belohnt werden. Weil sie »atypisch« ist. Weil sie von dem gewohnten, Langeweile und auch Aversion bereitenden politischen Muster abweicht.
Wir brauchen die Parteien, aber wir dürfen nicht weiter der Tendenz nachgeben, sie an die Stelle des Parlaments zu setzen. Denn anders, als die Parteizentralen glauben, sieht sich die große Masse der Wähler nicht durch eine Partei - oder wechselnd durch verschiedene Parteien - repräsentiert. Vielmehr richten die meisten Wähler ihre Wünsche und Erwartungen auf das Parlament oder auch direkt an die Bundesregierung. Das aber sollte die Parteien veranlassen, aus dem Kreidekreis der politischen Anmaßung herauszutreten und zur Stärkung der Funktionen und der Ausstrahlung des Parlaments beizutragen. Am Ende würden auch sie davon profitieren.
Kaum eine andere europäische Gesellschaft hat ein so ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis wie die deutsche. Diese tiefverankerte Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität, Absicherung und Beständigkeit geht wohl auf die Brüche und traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurück. Der mehrfache Verlust von Eigentum und Vermögen durch Kriege und Währungsreformen, die Erfahrungen der Massenarbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik, die Verführung durch den Nationalsozialismus mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtung von 6 Millionen Juden, die Unsicherheit der Besatzungsjahre, die Bedrohungen in der Zeit des Kalten Krieges entlang einer Demarkationslinie mitten durch Deutschland und nicht zuletzt die Bankrotterklärung der DDR mit 17 Millionen Schicksalen in der Konkursmasse - all das ist bis heute mentalitätsprägend und lässt Wähler in der Mitte zusammenrücken.
Jede Bewegung weg von der Mitte, hin zu den Rändern des politischen Spektrums, trifft auf tiefe Skepsis, mehr noch, auf Ablehnung. Deshalb ist beispielsweise eine Öffnung der SPD zur Linkspartei kein Nullsummenspiel, sondern nach meiner festen Überzeugung der sichere Weg zu deutlichen Verlusten der SPD, weil Wähler in der Mitte um einen höheren Faktor zu konservativbürgerlichen Parteien wechseln würden,
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