Unterm Strich
Schröder-Blair-Papier wurde in der SPD verrissen, wofür es mehrere nicht nur inhaltliche Gründe gab. Aber wo sind bis heute bessere sozialdemokratische Antworten auf den globalen, gesellschaftlichen und demographischen Wandel? Drei Jahre später, nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl 2002, wurde der zweiten rot-grünen Koalition ein Erneuerungsbedarf attestiert. Deutschland galt zu diesem Zeitpunkt in einer historischen Analogie zum Osmanischen Reich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts als der »kranke Mann« in Mitteleuropa. Die demographische Herausforderung war nicht gelernt, der Arbeitsmarkt verkrustet, die Sockelarbeitslosigkeit besorgniserregend hoch. Das Potenzialwachstum lag im internationalen Vergleich weit unter dem Durchschnitt. Das scheint heute alles vergessen zu sein. Ebenso die breite kritische Front aus Wirtschaft, ökonomischer Expertise und Medien, die nach einem schlechten Start der Koalition Ende 2002, Anfang 2003 Reformen anmahnte. Das war die Lage. Die Agenda 2010 im März 2003 unter der Koordination von Frank-Walter Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramts war die Konsequenz. Wer meint, dass es der damaligen rot-grünen Bundesregierung besser ergangen wäre und dem Land gedient hätte, wenn die Agenda 2010 in einer Schublade des Kanzleramts verschlossen worden wäre, der darf um gute Gründe nicht verlegen sein. Welche Alternative wäre den Problemen gerechter geworden?
Auf Details der Agenda 2010 will ich hier nicht eingehen. Der keineswegs belanglose Fehler dieses Reformprogramms, ihm keine »Erzählung« auf die Reise mitgeliefert zu haben, ist zugestanden. Wäre sie zuvor allerdings in Gremien der SPD zur Debatte gestellt worden, wäre dabei - wie jeder kundige Parteitaktiker weiß - politisches Labskaus rausgekommen - und ein sozialdemokratischer Bundeskanzler mit einem blauen Auge und einem Blumenkohlohr. Tatsächlich hielten einige Autoritäten der SPD die Agenda 2010 nicht etwa für zu weit gehend, sondern für unzureichend.
Großen Teilen von SPD und Gewerkschaften ging dieses Reformverständnis allerdings entschieden zu weit. Der jahrzehntelange Kampf zur Verbesserung der sozialen und materiellen Lage breiter Schichten, dem ein mühsamer, aber stetiger Erfolg beschert war, schreibt nach ihrem Verständnis zwingend vor, dass Reformen den erreichten Status bewahren müssen, Besitzstände nicht angetastet werden dürfen und der Staat seine Fürsorgefunktion uneingeschränkt auszuüben hat - selbst wenn sich die Rahmenbedingungen ändern und die Tragfähigkeit der staatlichen Finanzausstattung schwindet. Die SPD konnte aber unter den obwaltenden Umständen nicht mehr für alle Besitzstände garantieren. Früher oder später wären die Vergeblichkeit und Verlogenheit dieses Versprechens politisch aufgeflogen.
Hier liegt der zentrale Konflikt innerhalb der SPD und mit den Gewerkschaften, der sich an Chiffren entzündet hat. Im Kern kollidieren ein expansives Reformverständnis mit einem »guten Staat«, der gibt und schützt, und ein restriktives Reformverständnis mit einem »handlungsfähigen Staat«, der auf Eigenverantwortung und zukunftsfähige Strukturen drängt.
Die Legende besagt, dass die Agenda 2010 die Ursache für einen Exodus von Mitgliedern der SPD und eine Serie von Wahlniederlagen sei. Was die Mitgliederzahl betrifft, ist dies unzutreffend. Was die Wahlniederlagen nach 2003 betrifft, stimme ich Michael Naumann zu, der es für eine Ausrede von Parteiaktivisten und Gewerkschaftsfunktionären hält, Opfer des »Agenda-Schröderismus« zu sein. Diese hätten sich in Wirklichkeit eine klare Linksdrift der SPD mit einem prinzipiellen Verzicht auf die rot-grüne Reformpolitik gewünscht. Ich füge hinzu, dass die SPD nach 2003 Wahlniederlagen nicht wegen der Agenda 2010 an sich erlitt, sondern weil sie es versäumte, dieses Reformkonzept sich selbst zu erklären und offensiv nach außen hin zu vertreten. Sie hat die Interpretationshoheit über die Agenda 2010 den Linken innerhalb der SPD, den Gewerkschaften und der Linkspartei überlassen. Dagegen war derjenige Teil des Publikums enttäuscht, der die SPD 1998 und dann noch einmal knapp 2002 in der Erwartung von Antworten auf Globalisierung, demographische Entwicklung und gesellschaftlichen Wandel gewählt hatte. Diese Wähler sahen in der SPD nicht mehr die Partei der Modernisierung, sondern eine strukturkonservative Partei, die sich ihrer eigenen Regierungsfähigkeit nicht mehr sicher war - und die ihren eigenen,
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