Unterm Strich
im öffentlichen Ansehen hoch gehandelten Kanzler zu demontieren begann.
Die gelegentlich aufbrechenden, häufig unterschwellig ausgetragenen Grundkonflikte absorbieren parteiintern nicht nur Energie und Aufmerksamkeit. Sie nehmen der SPD Geschwindigkeit, und das in einer Zeit, in der sich vieles beschleunigt. Mit anderen Worten: Die SPD neigt zur Verspätung. Ihr werden programmatische und instrumenteile Anpassungen häufig von neuen Realitäten abgetrotzt. So ergeht es ihr beispielsweise mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters, wo bis heute einige - wiederum unter dem Druck der Gewerkschaften - glauben, man könne die Mathematik der Demographie überlisten. Diese Anpassungen sind nicht das Ergebnis einer unvoreingenommenen Vorausschau von Trends und Strukturveränderungen, sondern in letzter Minute von der Wirklichkeit erzwungen - was weder ihrer Stringenz noch ihrer Vermittlung guttut. Deshalb erscheint die SPD manchen als (sympathische) alte Tante oder lädierter Großtanker, aber nicht als innovationsfreudig und mobil.
Ein persönliches Bekenntnis
Ich habe in über 40 Jahren Parteimitgliedschaft, 16 Jahren als sozialdemokratischer Regierungsvertreter in verschiedenen Kabinetten und in vier Jahren als stellvertretender Vorsitzender der SPD bis 2009 anrührende und begeisternde Erfahrungen in und mit der SPD gemacht: mit neugierigen und engagierten jungen Leuten, mit motivierten Frauen und Männern, die in der Diaspora für Kommunalwahlen kandidierten, mit handfesten Mitgliedern, denen graue Theorie ein Gräuel war, mit verlässlichen und unermüdlichen Ortsvereinsvorständen, die die Fahne hochhielten, mit sympathischen Verrückten, mit tüchtigen Kommunalpolitikern, die sich im 24-Stunden-Einsatz um die örtlichen Belange kümmerten, von der Müllkippe bis zur defekten Straßenlaterne, mit leidgeprüften Mitgliedern und echten Parteifreunden, die sich mit viel Witz die Zähne über das Parteileben langziehen konnten. Das prägt, und das bleibt.
Auf der anderen Seite gab es eine Reihe von Erscheinungen in der SPD, die mir unerklärlich und fremd geblieben sind. 48 Stunden vor der Bundestagswahl 2009 jubelt der Berliner Landesverband der SPD mit seinen Spitzenvertretern dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier auf einer Großveranstaltung zu. Alle schwelgen in Zuversicht. Nicht einmal 24 Stunden nach dem Wahlsonntag beschließt derselbe Landesverband: »Wesentliche Akteure der SPD wie Steinmeier, Steinbrück und Müntefering sind untrennbar mit der Agenda-Politik ab 2003 bzw. der abgewählten >Großen Koalition< ab 2005 verbunden.« Diese Riege müsse daher weg. Ausgerechnet der SPD-Landesverband, der gerade mit mehr als 14 Prozent oder rund 300 000 Stimmen gegenüber der Bundestagswahl 2005 weit überdurchschnittlich verloren hatte, klagte als Erster bei anderen Verantwortung ein. Da merkte man wieder einmal, dass der Sündenbock kein Herdentier ist. Das ist nicht nur schlechter Stil, darin kommt auch eine Neigung zum Ausdruck, innerparteiliche Differenzen und Abweichungen einem Tribunal zuzuführen - der Fall von Wolfgang Clement und der Umgang mit den vier »Abweichlern« in Hessen sind Beispiele. Am liebsten würden Teile der Berliner SPD auch Thilo Sarrazin und sogar ihren inzwischen buchstäblich ausgezeichneten Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky exkommunizieren, weil beide angeblich den Kodex parteiverträglichen Wissens verletzt haben. Es gibt eine Schicht von Parteiaktivisten, die einem intoleranten Jakobinismus anhängen und Meinungsoffenheit bereits für einen Verrat an Prinzipien halten.
Die regelmäßige, fast ritualisierte Abfolge und Länge von Wortmeldungen in den Spitzengremien der Partei und die andeutungsreiche Mimik einiger Mitglieder, wenn sie sich durch einen Beitrag provoziert fühlten, können noch unter den Kuriosa des Parteilebens abgebucht werden. Ebenso der Kampf um Spiegelstriche bei Texten, die außerhalb der SPD den Aufmerksamkeitswert von ablaufendem Badewasser haben. Andererseits handelt es sich natürlich um bereits in Vorgesprächen verabredete Redebeiträge, um Markierungen durch Textgestalt und Körpersprache, die Deutungshoheit und den Kanon verträglicher Parteimeinungen sichern sollen. Da ist jede Naivität deplatziert.
Andere Beobachtungen wecken mehr Besorgnis, und wer die SPD wieder näher zu den Wählern bringen will, muss hier auf Konsequenzen drängen. In ihren Spitzengremien sind Wortführer anzutreffen, deren Geltung und Einfluss in diesen Gremien
Weitere Kostenlose Bücher