Unterm Strich
kann.
Ungemütlicher und konfliktgeladener als die Diagnose historischer Gründe für die »Not der SPD« erscheint mir eine andere Einschätzung. Sie hängt mit dem Vakuum, das die verlorene »Leitidee« hinterlassen hat, und mit der schwindenden Bindungskraft der SPD zusammen. Aber sie geht darüber hinaus: Tatsächlich hat die SPD in ihren eigenen Reihen - nicht erst seit den siebziger Jahren, sondern letztlich seit dem Revisionismusstreit zwischen Karl Kautsky und Eduard Bernstein, also seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert - den Grundkonflikt zwischen »Partei-, Bündnis- und Reformkonzeption« (Franz Walter) nicht ausgefochten.
Verschiedene Flügel gibt es in anderen Parteien auch, in der CDU mit den Vertretern der katholischen Soziallehre und der wirtschaftsliberalen Gefolgschaft vom Leipziger Parteitag 2003 allemal.
Aber konservative Parteien werden im Kern letztlich von der Vorstellung zusammengehalten, dass sie eigentlich die Welt von gestern die bessere finden. Ihr Bedarf an Zukunftsvisionen und einem programmatischen Überbau, aus dem sich Veränderungsansprüche ableiten, ist deshalb begrenzt. Folglich ist ihre Fallhöhe beim Scheitern gering. Im Übrigen schrieb der Machtinstinkt der CDU/ CSU immer ein starkes Zentrum vor, an dem sich ihre Flügel proper auszurichten hatten - und nicht etwa umgekehrt.
Das ist bei einer Partei mit einem »progressiven Selbstverständnis« wie der SPD, die mit einem hohen Veränderungsanspruch die Verhältnisse und das Zusammenleben der Menschen verbessern will, ganz anders. Dementsprechend sind die Fallhöhe und das parteiinterne Frustrationspotenzial beim Scheitern um eine politische Qualität größer. Daher hat ein Grundkonflikt über verschiedene Entwürfe von Reformpolitik, über Bündnisfragen und das Selbstverständnis der Partei in der SPD ein anderes Gewicht. Abgesehen davon war ein Zentrum der SPD, das zwischen den Flügeln für Stabilität sorgte und integrierende Kraft entfaltete, eher selten zu erkennen.
Angesichts dieses unausgefochtenen Grundkonflikts, der natürlich nicht ständig offen vorgeführt wurde, aber wie ein Tinnitus in diversen Debatten mitschwang, erschien die SPD vielen Beobachtern und Wählern uneinheitlich, diffus, orientierungslos, manchmal reformistisch, manchmal rückfallambitioniert, jedenfalls gespalten - kurz: auf der Suche nach einer Identität. Das ist nicht gerade vertrauenerweckend. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich meine Partei während der letzten acht Jahre gelegentlich in einer schismatischen Situation sah. Kurt Kister schrieb dazu in der Süddeutschen Zeitung beunruhigend zutreffende Artikel. Die SPD hat es jedenfalls bis zur verlorenen Bundestagswahl 2009 nicht geschafft, sich als eine moderne, linke Volkspartei auf der Höhe der Zeit zu formieren.
Diesen Grundkonflikt als einen Streit zwischen Modernisierern und Traditionalisten zu beschreiben mag zu simpel sein und vielen Beteiligten nicht gerecht werden. Als ein solcher lässt er sich aber bei einem Blick auf die wesentlichen Unterschiede in den Auffassungen über Wirtschaft und Sozialstaat begreifen. Die fundamental divergierenden Ansichten spiegeln sich vor allem im Verhältnis zum Unternehmertum und im Verständnis von Sozialpolitik wider. Ein Teil der SPD definiert Regierungsfähigkeit vornehmlich über das Soziale in einer sich spaltenden Gesellschaft, während ein anderer Teil die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sozialpolitik unter sich ändernden Bedingungen betont.
Zum Fundus der SPD gehört, dass sie eine Partei der Moderne, der Dynamik und Emanzipation ist. Tatsächlich ist ihr inzwischen der Fortschrittsbegriff in seiner gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Dimension weitgehend entglitten. Unter dem Eindruck des Gefahrenpotenzials moderner Technologien, vor dem Hintergrund von Klimawandel, Umweltverschmutzung und der Überwältigung der Politik durch die digitale Revolution ist das Pendel umgeschlagen: von einer naiven Technikeuphorie und einem platten Industrialismus, denen die Partei bis in die frühen siebziger Jahre anhing, hin zu einer merklichen Technologieskepsis und einem Unverständnis gegenüber der modernen Großindustrie. Die Risikodebatte dominiert, die Chancendebatte ist ins Hintertreffen geraten.
Neue Trennlinien in der Gesellschaft jenseits des alten Antagonismus von Arbeit und Kapital, die demographische Herausforderung, die Entkräftung des sozialen Aufstiegsversprechens, unterschiedliche
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