Unterm Strich
Antworten auf die zentrale Frage nach Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert und zuletzt auch militärische Auslandseinsätze im Rahmen internationaler Mandate: all das hat zu einer spürbaren Verstörung in der SPD geführt. In der Trauer über den Verlust alter Sicherheiten und politischer Selbstgewissheiten wächst die Versuchung, sich aus der komplexen, herausfordernden und unfreundlichen Welt zurückzuziehen. Die Scheu vor tiefer gehenden Veränderungen - und sei der Druck im Kessel noch so hoch - und die Sehnsucht nach dem »gefühlten Gestern« sind größer als der Ehrgeiz, Fortschritt und den damit verbundenen Veränderungsbedarf zu definieren und aktiv voranzutreiben. Das verbreitet nicht unbedingt Nestwärme. Aber damit verliert die SPD einen ihrer wichtigsten Markenkerne - zumal wenn andere politische Kräfte den Fortschrittsbegriff in ihrem Sinne besetzen.
In einer solchen Betrachtung erscheint die SPD als eine halbherzig modernisierende und zugleich als eine technikskeptische, sozialromantische und international unstete Partei. Als Aufbruch ins 21. Jahrhundert wird das nicht verstanden.
Der Grundkonflikt spiegelt sich auch in der Bündnisfrage - sowohl im Hinblick auf potenzielle Koalitionspartner als auch auf politische Unterstützer und Wählergruppen. Die Vorgänge in Hessen servierten der SPD die Frage: »Wie hältst du es mit der Linkspartei?« Davor war das in den neuen Ländern eher eine pragmatische Frage der Mehrheitsbildung gewesen. Jetzt wurde sie zu einer Richtungsfrage mit der Einladung zu Bekenntnissen und Konfrontationen. Den Stock, der uns dann regelmäßig hingehalten wurde, hat die SPD selbst geschnitzt - und sie ist ebenso regelmäßig, in letzter Zeit erfreulicherweise immer seltener, darübergesprungen, entweder aus tiefer Empörung oder in der Hoffnung auf eine neue Machtoption. Einige wenige träumten von einem fernen Vereinigungsparteitag. Statt das Verhältnis zur Linkspartei davon abhängig zu machen, ob sie sich von ihrem ideologischen Sperrmüll trennt, machte sich die SPD die Frage zu eigen, ob und wie sie den Weg zur Linkspartei finden wolle. Ein Ball Paradox, auf dem die SPD augenfällig keine geschlossene Polonaise tanzte.
Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung haben dieselben Wurzeln. Die in Gewerkschaften organisierte Arbeitnehmerschaft galt als die wichtigste Fußtruppe der SPD - und die SPD war umgekehrt der wichtigste politische Sachwalter gewerkschaftlicher Interessen. So ist es kein Wunder, dass beide Organisationen nervös reagieren, wenn ihre Beziehungen gestört werden. Die engen Bindungen und das ungetrübte Verhältnis zu den Gewerkschaften gelten in der SPD als notwendige Bedingung für Wahlerfolge. Aber was ist, wenn das keine hinreichende Bedingung mehr ist?
Wenn 28 Prozent der Arbeiter bei der Bundestagswahl 2009 CDU/CSU und sage und schreibe 13 Prozent sogar die FDP wählten, während sich nur 24 Prozent für die SPD entschieden, dann wird die SPD wohl kaum noch von einer unangefochtenen Domäne in dieser Wählergruppe reden können. Sie wird erst recht nicht mehr darauf setzen können, dass ihr dieser Teil der Wählerschaft als Mehrheitsbeschaffer dient. Also liegt die Schlussfolgerung nahe, dass sich die SPD anderen Wählergruppen öffnen muss. Aber was passiert, wenn diese Öffnung nur in einer gewissen Distanz zu den Gewerkschaften gelingen kann, die übrigens ebenso wie die SPD schmerzliche Mitgliederverluste zu beklagen haben? Ich rede nicht von einer bewussten Distanzierung, sondern von einem größeren Abstand in der für unverbrüchlich und unersetzlich gehaltenen Beziehung zu den Gewerkschaften. Ein ungeheuerlicher Gedanke! Gerade jetzt, in einer durch die Bundestagswahl 2009 eingeläuteten Phase, in der es nach einem Vertrauensriss wieder zu wechselseitigen Annäherungsschritten kommt, mutet eine solche Idee wie blanker Verrat an. Warum eigentlich?
Hier rumort ein Grundkonflikt zwischen einer gewerkschaftszentrierten Ausrichtung der SPD mit entsprechenden Politikangeboten - insbesondere für konventionelle Industriebereiche und den öffentlichen Dienst - und einer Öffnung gegenüber disponierenden »Arbeitern« der Wissensgesellschaft, Mittelständlern und Existenzgründern, planenden Eliten, gut ausgebildeten Frauen, vor allem in Urbanen Milieus, oder Beschäftigten in der Kreativwirtschaft, denen nicht durchweg eine besondere Gewerkschaftsnähe unterstellt werden kann. Sie sind deshalb auch kaum mit einer auf Gewerkschaftsinteressen
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