Unterm Strich
fixierten Politik und Rhetorik zu erreichen. Öffnung heißt, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Anders ausgedrückt: Die Übereinstimmung mit den Gewerkschaften sollte dort gesucht werden, wo dies gemeinsamen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen entspricht. Und die SPD sollte dort Eigenständigkeit praktizieren, wo eine divergente Ansprache anderer Wählergruppen erforderlich ist.
Auf eine solche Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der SPD haben die Gewerkschaften selbst immer Wert gelegt und sie auch oft genug zu Lasten der SPD dokumentiert. Mit ihrer weit überzogenen Kritik an der Agenda 2010, die ihren eigenen Sozialkonservatismus für zukunftsfähig hielt, diskreditierten weite Teile der Gewerkschaften nicht nur die (notwendige) Reformpolitik der SPD. Sie zerschossen der SPD auch das - zugegebenermaßen verblasste - Banner sozialer Gerechtigkeit, indem sie ihre Artillerie auf etwa vier von über zwei Dutzend Punkten der Agenda 2010 konzentrierten. »Die SPD muss ihren Agenda-Kurs verlassen«, forderte pauschal und apodiktisch der DGB-Vorsitzende Michael Sommer im Mai 2007, ohne vorher und nachher je die Frage zu reflektieren, wo denn nicht nur die SPD, sondern das Land stünde, wenn es die Agenda 2010 nicht gegeben hätte.
Während ein Teil der Wähler die SPD aus einer inhaltlichen Kritik an der Agenda 2010 verließ, ein anderer Teil eine überzeugende Erklärung dieser Reformpolitik vermisste, so gab es auch einen Teil, den die massive und undifferenzierte Frontstellung der Gewerkschaften dazu bewog, sich von der SPD zu verabschieden. Sie hat auch den parteiinternen Grundkonflikt über die Notwendigkeit von Reformpolitik aktiviert - denn natürlich zeigte sie erhebliche Trefferwirkung bei SPD-Politikern, deren obere Führungsdecks im Übrigen zu 80 bis 90 Prozent aus Gewerkschaftsmitgliedern bestehen dürften - und ihn beinahe zum öffentlichen Bühnenstück gemacht: Die Initiative zu einer Mitgliederbefragung und damit zu einem Misstrauensvotum gegen Gerhard Schröder ist allerdings dem politischen Kurzzeitgedächtnis schon zum Opfer gefallen.
Der ungelöste Grundkonflikt der SPD über verschiedene Reformkonzeptionen ist an der Umsetzung der Agenda 2010 exemplarisch deutlich geworden. Es gab dazu einen Vorlauf, der leicht vergessen wird. Von dem Wahlsieg der SPD mit Gerhard Schröder im September 1998 und der ersten rot-grünen Koalition erwartete ein Teil der Wählerschaft (und der aktiven SPD-Parteigänger) schwungvolle Reformen nach der bleiernen Zeit der neunziger Jahre unter Helmut Kohl, den Aufbruch ins 21. Jahrhundert und die Überwindung all der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und bürokratischen Erstarrungen, die eine größere Dynamik verhinderten. Ein anderer Teil der Wählerschaft (und ebenso der aktiven SPD-Parteigänger) erhofften sich dagegen Schutz vor dem Verfall ihres sozialen Status im harschen ökonomisch-gesellschaftlichen Wandel, mehr Wohlfahrtsstaatlichkeit und eine stärkere Umverteilung. Diese Spannweite war ohne Enttäuschung des jeweils anderen Flügels nicht zu überbrücken. Am Ende waren beide enttäuscht.
Dann machte im Juni 1999 das sogenannte Schröder-Blair-Papier die Runde, das - in kommunikativer Hinsicht bestimmt keine Meisterleistung - die SPD nicht zuletzt wegen mancher Reverenzen an den Zeitgeist der Marktgläubigkeit in den falschen Hals kriegte und als Attacke auf ihre Selbstgewissheiten wertete. Dabei folgte es der richtigen Erkenntnis von Gerhard Schröder und Tony Blair, dass linke Volksparteien die Antworten auf den globalen, ökonomischen und sozialen Wandel geben und ihre Gesellschaften modernisieren müssen, wenn sie nicht von anderen Kräften mit fatalen Ergebnissen modernisiert werden wollen.
Im Übrigen täuscht die in die Wahlniederlage 2010 mündende Endzeit der Labour Party unter Gordon Brown darüber hinweg, dass sie mit einer 13-jährigen Regierungszeit länger im Amt war als jede sozialdemokratische oder sozialistisch geführte Regierung in Kontinentaleuropa während der letzten drei Jahrzehnte. Dieser Erfolg war, wie Anthony Giddens betont, weitgehend auf einen ideologischen Wandel der Labour Party bereits vor (!) ihrem ersten Wahlsieg 1997 zurückzuführen, der sich in dem Begriff »New Labour« ausdrückte. Er bezeichnete ein Parteikonzept und eine klare politische Agenda, die höchst erfolgreich wirkte - bis »New Labour« nicht mehr zog, weil sie »old fashioned« wirkte.
Das
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